Balsam für die Kinoseele

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Hanns-Georg Rodek

Das ist Balsam für die Seele des international so gering geschätzten deutschen Kinos: Zum ersten Mal seit 16 Jahren hat wieder ein deutscher Film den Hauptpreis eines der wichtigen A-Festivals gewonnen: Iain Diltheys «Das Verlangen» erhielt gestern den Goldenen Leoparden bei den 55. Festspielen zu Locarno.

Es ist der zweite Langfilm des gebürtigen Schotten, der an der Ludwigsburger Film- und Fernsehakademie studiert hat. «Das Verlangen» erzählt von dem ereignislosen Leben einer Pfarrersgattin in einem kleinen deutschen Dorf; Lena lebt in einem eisigen Gefängnis aus in Routine erstarrten täglichen Verrichtungen, autoritärer Herablassung ihres Mannes und Pflichterfüllung, die ihr keiner dankt. Diltheys langsamer, ohne jeglichen Technik- oder Schnittschnickschnack erzählter Studien-Abschlussfilm baut eine erdrückend-erstickende Atmosphäre auf, die sich nur auf eine Weise entladen kann - in Gewalt.

Diltheys Film mit weitgehend unbekannten Darstellern - Susanne-Marie Wrage, Klaus Grünberg und Robert Lohr - spielt im schwäbisch-fränkischen Wald und gilt als dritter Teil der «Sehnsuchtstrilogie» des 31-jährigen. Unter seinem Drehbuchtitel «Glaube, Liebe, Hoffnung» erhielt der Stoff im Februar den baden-württembergischen Drehbuchpreis.

Die Auszeichnung beendet eine lange Durststrecke für deutsche Filme auf dem internationalen Parkett. Man muss sich schon an die erste Hälfte der Achtziger erinnern, um deutsche Gewinner auf den wichtigsten Festivals zu finden. In Venedig gab es gleich zweimal hintereinander deutsche Sieger (1981 Margarethe von Trottas «Die bleierne Zeit» und 1982 Wim Wenders' «Der Stand der Dinge»), in Cannes gewann 1984 Wim Wenders mit «Paris, Texas», und den letzten Heimsieg bei der Berlinale landete 1986 Reinhard Hauffs «Stammheim».

Locarno ist allerdings erst seit diesem Jahr Mitglied im prestigereichen A-Club. Das sollte die Freude nicht trüben. In den vergangenen zwei Jahren haben sich die Preismeldungen für deutsche Filme bei den kleineren, den «Aufbaufestivals», gehäuft - üblicherweise ein Indikator dafür, dass sich in einer nationalen Filmkultur etwas tut und diese Entwicklung auch wahrgenommen wird. Anzeichen sind auch der Silberne Bär für Andreas Dresens «Halbe Treppe» bei der diesjährigen Berlinale und die Einladung zweier deutscher Filme in den Biennale-Wettbewerb nächsten Monat: Doris Dörries «Nackt» und Winfried Bonengels «Führer Ex».

Weitere Preise der Jury - Mitglieder waren u.a. der Schweizer Schauspieler Bruno Ganz, die Regisseure Béla Tarr (Ungarn) und Jafar Panahi (Iran) - gingen an den Argentinier Diego Lerman (Silberner Leopard für «Tan de Repente / Plötzlich») und den Iraner Rassul Sadr-Ameli (Spezialpreis der Jury für «Ich bin Taraneh, 15 Jahre»). Beste Schauspielerin wurde Taraneh Allidousti, die 15-jährige Hauptdarstellerin. Das männliche Pendant geht ebenfalls an einen Kinderschauspieler, an Giorgos Karayannis in dem griechischen Beitrag «Ein schwerer Abschied: Mein Vater» von Penny Panayotopoulou.