Die Abgründe des Clowns

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Hanns-Georg Rodek

Frankreich hat eine Bezeichnung für sie. «Monstres sacrés», heilige Ungeheuer. Sie benehmen sich unmöglich, sprengen den Rahmen öffentlichen Wohlverhaltens - und trotzdem liebt sie die Nation. Wie Jean Gabin und Jean Marais. Doch wer ist heute ihrer würdig? Michel Serrault erscheint - fast - pünktlich in der Hotelbar nahe dem Pariser Etoile, das Haar ordentlich frisiert, der Zweireiher säuberlich gebürstet. Er weiß, dass er es mit einem deutschen Journalisten zu tun hat. Aus dem Schwarzwald. «Ah, der Schwarzwald. Es ist schön dort. Titisee. Neustadt. Ich habe meine Theaterlaufbahn in Baden-Baden begonnen, 1946, ich war 18.»

Der 74-Jährige kann charmant sein. Rührt gesittet in seiner Tasse. Ist das derselbe, der in «In aller Unschuld» mit Heißhunger Frühstücksbrötchen verschlingt, im sicheren Glauben, die Schwiegertochter vergiftet zu haben? Eine seiner Paraderollen, vor 15 Jahren, ein körperlicher und seelischer Krüppel, egoistisch, impulsiv, infam. Sein erster Film waren «Die Teuflischen», wo der Gatte in der Badewanne ertränkt wird. Doch das ist eine falsche Spur, denn Serrault spielte einen braven Lehrer, und überhaupt: Eigentlich wollte er Pfarrer werden. Oder Clown.

Zwei Jahre hat er im Priesterseminar verbracht: «Ich habe viel gelacht und endlich gedacht: welche Verschwendung, geh lieber zum Zirkus.» Es gab keine Schule dafür, im Gegensatz zu heute. «Heute versucht man, einem alles in Schulen beizubringen. Ich halte das für einen Fehler. Deshalb gibt es heute so wenig gute Clowns. Man kann nicht lernen, komisch zu sein.»

Kaum zu glauben, dass dieser Mann, der derzeit als knurriger Bauer in «Eine Schwalbe macht den Sommer» zu sehen ist, 25 Jahre in der leichten Komödie verbracht hat, erst mit seinem Sketch-Partner Jean Poiret, dann in Filmen mit Titeln wie «Wo die grünen Nudeln fliegen». Der Transvestit Albin im «Käfig voller Narren» änderte alles, denn die Produzenten bemerkten, dass die Leute wegen dieser mittlerweile 50-jährigen Edelcharge ins Kino lief - und die Regisseure erkannten, welch abgründige Brandstifter sich hinter dem Biedermanngesicht entdecken ließen. Claude Chabrol hat mit den «Fantomen des Hutmachers» als erster das Psychopathologische aus Serrault gekitzelt; kein Wunder, dass der auf die Frage nach dem Lieblingsregisseur «Chabrol» antwortet. «Die Leute die mich mögen, sagen über mich: ,Serrault ist nicht sehr intelligent, aber er besitzt eine Menge Instinkt.' Leute, die mich nicht mögen, sagen: ,Serrault hat so viel Instinkt, dass es fast an Intelligenz grenzt.'» Heilige Monster sind eben keine normalen Menschen. Und deshalb folgen wir Serrault in all seine Abgründe, ohne Vorbehalt.