Wie der typische Berliner Tourist aussieht, davon weiß Bolle ein Lied zu singen. Wenn einer wie er verreist, «zu Pankow» beispielsweise, verliert er seinen Jüngsten «ganz plötzlich im Gewühl». Das liegt wohl daran, dass der Berliner auch im Urlaub das vertraute Geschiebe nicht missen möchte. Auf Events ist er gewissermaßen abonniert. Bolle etwa stürzt sich in eine Keilerei und amüsiert sich großartig.
Die Suche nach dem letzten Kick treibt auch den heutigen Berliner im Sommer um und in weiter entfernte Gegenden, als sie Bolle je zu Gesicht bekommen haben dürfte. Bis weit ins 20. Jahrhundert war Reisen das Privileg der Oberschicht. Der Massentourismus ist ein «Phänomen der 60er-Jahre», weiß Hasso Spode, Privatdozent am Willy-Scharnow-Institut für Tourismus der Freien Universität. Von Massentourismus spricht der Experte, wenn mehr als die Hälfte der Bevölkerung regelmäßig verreist.
Noch um 1900 waren die Voraussetzungen dafür ausgesprochen schlecht. Einen Anspruch auf bezahlten Urlaub etwa hatten vor dem Ersten Weltkrieg nur Beamte und höhere Angestellte. Die Berliner Morgenpost schreibt 1911 über die Debatte zur Ausweitung der Urlaubsregelungen: «Prinzipielle Leute meinen, die Ferienfrage gehe die Arbeitgeber als solche gar nichts an, da ja jeder Arbeiter in der Lage sei, seine Beschäftigung aufzugeben, wenn er Ferien haben wolle.» Der Magistrat gewährt seinen Arbeitern 1911 nach drei Jahren drei Tage Urlaub.
Die Berliner, die verreisen können, zieht es zur Sommerfrische in die Ostsee-Bäder, wie die 1911 veranstaltete «Internationale Ausstellung für Reise- und Fremdenverkehr» in den Ausstellungshallen am Zoo zeigt. Doch dem Lust-Trip haftet im frühen 20. Jahrhundert noch etwas Exotisches an. «Die Geschäftsreisenden bilden den weitaus größten Teil aller Reisenden», stellt der Brockhaus 1933 fest.
Pauschalreisen allerdings gab es schon im 19. Jahrhundert. Um 1855 bot das Berliner Reisebüro Riesel nach Vorbild des Engländers Thomas Cook organisierte Touren an - in die Badeorte an Ost- und Nordsee oder in die Sächsische Schweiz. Das Reisebüro Stangen, das 1863 Unter den Linden eröffnete, sollte zum größten im Kaiserreich aufsteigen. Dessen Kunden konnten sogar Fernreisen zu den Pyramiden buchen, berichtet Spode. Doch erst nach 1918 dehnt sich der Kreis der Reisenden weiter aus.
1932 beginnt in Berlin eine neue Ära der preiswerten Pauschalreise. Ex-Arbeitsamtsdirektor Carl Degener eröffnet im Cafe Bauer, Unter den Linden, sein erstes Reisebüro. Und expediert in diesem Jahr 5000 Hauptstädter ins Salzburger Land. 1933 lenkt Degener wegen neuer Devisenregelungen der Nazis seine Kunden ins verschlafene bayerische Nest Ruhpolding um. Die ersten Urlauber zahlen 69 Reichsmark für acht Tage - und sind etwas enttäuscht. Offenbar fehlt den Berlinern Remmidemmi, weshalb Degener für den Bau eines Kurhauses sorgt. Die Trips nach Ruhpolding machen ihn reich, und nach dem Krieg startet er als «Touropa»-Gründer erneut erfolgreich durch.
Doch zuvor kommt eine «1000-jährige Unterbrechung», in der Massentourismus politisch forciert wird. Die nationalsozialistische Gemeinschaft «Kraft durch Freude» schickt nach Spodes Worten «zwischen 1934 und 1939 über sieben Millionen Menschen in die Ferien». Die Nazis wollen das «bürgerliche Privileg des Reisens» brechen. Das Instrument KdF ist auch der Versuch, eine totale Freizeitkontrolle zu schaffen. Dann beendet der Zweite Weltkrieg das Kapitel «Kraft durch Freude».
1949 wagt Touristikpionier Degener eine Prognose: «Die Deutschen werden reisen wie noch nie, wenn sie erst wieder satt zu essen haben». Tatsächlich gehört die Urlaubsreise 1950 zum Jahresprogramm der Durchschnittsfamilie, Schritt für Schritt erobern sich die Erlebnishungrigen aus dem Westen neue Horizonte. Für DDR-Bürger endet die Ferienfreiheit in den «Bruderländern». Den Pauschaltourismus der 60er-Jahre mischen Versandhäuser wie Quelle und Neckermann mit billigen Flugreisen auf. Immer mehr Urlauber reisen organisiert, heute ist ein Höchststand erreicht. Im Jahr 2000 unternahmen die Deutschen rund 62 Mio. Haupturlaubsreisen.
Übrigens berichtete die Presse in den frühen Nachkriegsjahren von irritierenden Zwischenfällen, die Gastgeber im Ausland zeigten sich über das Auftreten mancher Gäste aus Germany entsetzt. Im «Einmaleins des guten Tons» appellierte Gertrud Oheim 1955 streng: «Auslandsreisen ... verpflichten vielleicht noch mehr als Reisen in der engeren Heimat zu gutem Benehmen.» Wenn das Bolle gelesen hätte!