Ein Friedhof in Italien und eine Gedenkstätte in Berlin
In dem kleinen Dorf im Süden, wo wir seit vielen Jahren die Ferien verbringen, sind Kirche und Friedhof der Mittelpunkt wie seit Jahrhunderten. Zwar hat sich die Welt ringsherum radikal verändert. Bauern gibt es nur noch zwei im Ort und die meisten jungen Leute arbeiten längst in Elektronikfirmen, Bankfilialen oder Reisebüros. Und statt Tanzboden gibt es landauf landab die Disco-Nächte, deren grellbunte Werbezettel an den Alleebäumen hängen.
Aus dem behäbigen Wirtshaus hat ein bienenfleißiger Familienclan aus Kalabrien die Pizzeria «La Stella» gemacht. Den uralten Kastanien des Biergartens ist es egal, ob in ihrem Schatten Schweinsbraten mit Knödeln verzehrt wird oder «Quattro Stagioni». Wenn man abends nach Haus geht, sieht man durch die Fenster das magische Licht der Fernseher und Computerbildschirme glimmen.
Globalisiert, modernisiert, elektronisch vernetzt ist das Dorf genauso wie jede deutsche Großstadt. Aber der Sonntag ist so wie er seit Jahrhunderten war. Die Kirche ist rappelvoll und danach stehen und gehen die Leute auf dem Friedhof herum und schauen sich die Gräber an.
Auch ich bin oft dort gewesen. Diese Grabsteine sind die steingewordene Erinnerung an die gemeinsame Geschichte der Deutschen. Natürlich handeln sie auch von dem, was allen Menschen gemeinsam ist. Salomos Satz «Des Menschen Leben währet siebzig Jahre . . .» und sein Fazit, dass man noch froh sein kann, wenn es nur «Mühe und Arbeit» war, steht mit Goldschrift auf viel schwarzem Granit. Aber die andere Erzählung auf fast jedem Grabstein handelt vom sinnlosen Tod zweier Generationen junger Männer 1914 - 18 und 1939 - 45.
Wie fremdartig lesen sich die Namen der Todesorte neben den Geburtsorten, die gerade einmal zehn Kilometer im Umkreis liegen. In Frankreich, Russland, Belgien, Holland, Italien, Jugoslawien, Ungarn und Polen sind diese Bauernkinder ums Leben gekommen. Die meisten waren nicht älter als 25, und die meisten sind im letzten Dreivierteljahr vor dem 8. Mai 1945 getötet worden: eineinhalb Millionen zwischen dem 20. Juli 1944 und dem Kriegsende. Auf den Friedhöfen Russlands, Amerikas und Englands sieht es ähnlich aus mit den Namen der anderen Jungen, die Hitlers Wahnsinnskrieg um Leben und Glück gebracht hat.
An den Dorffriedhof musste ich denken, als ich diese Woche las, dass Thomas Flierl die Neue Wache als nationalen Gedenkort für überflüssig hält. Gut, dass ihn die Sache wirklich nichts angeht. Die zentrale «Gedenkstätte für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft» ist eine Bundeseinrichtung.
Vielleicht sollte Flierl aber einfach einmal einen halben Tag zuschauen, was sich in der Neuen Wache tut. Er würde seine Meinung sofort revidieren.