Festspiele allüberall. Sie gehören zum Sommerbild wie sonst nur noch die Picknick-Körbe. Der Geist streckt sich lang. Man futtert Kultur. Man aalt sich in Kunst. Man berauscht sich am unausschöpflichen Erfrischungsquell der Musik. Man ist heiteren und entspannten Gemütes. Zumal, wenn es einem gelungen ist, die gewünschten Tickets erhalten und die nicht unerheblichen Eintrittspreise, immer leicht jenseits der Schmerzgrenze, berappt zu haben. Doch was solls: Jedes Jahr kennt schließlich nur einen Sommer, und der will (und soll) genossen sein.
Es gab Zeiten, da sauste ich im Eiltempo durch den Sommer und naschte an einer Vielzahl von Festspiel-Aufführungen rundum in Europa. Heute besuche ich regelmäßig im Grunde nur noch zwei: den alljährlichen «Olympus Musicus», das musikalische Welttreffen der Wettbewerbssieger, und den «Kissinger Sommer», das Musikfestival der kurzen, geharkten Wege.
Immer wieder klagen mir seine hingerissenen, treuen Besucherinnen ihr Leid: Wie sie zu Hause, auf dem nächtlichen, oft einsamem Rückweg von den Großstadt-Konzerten im Dunkel überfallen, bestohlen oder gar ausgeraubt worden sind. So etwas kann ihnen in Kissingen auf gar keinen Fall passieren. Die rettende Hoteltür öffnet sich hier nämlich selten weiter als hundert Meter vom Konzertsaal entfernt. Kissingen offeriert seinen Gästen ein durch und durch humanes Festival, das Genuss und Behagen nicht einzig verspricht, sondern auch liefert.
Aufregender geht es natürlich, zumal für die der russischen Sprache Unkundigen, in St. Petersburg zu, allerdings weit überwältigender auch. Es setzt Festspiele mitten in architektonische Pracht, gerade jetzt, im Vorjahr der Dreihundertjahr-Feier der Stadt, die wie mit aufgekrempelten Ärmeln Tag und Nacht pausenlos aufpoliert, restauriert, umgebaut und verschönt wird. St. Petersburg soll glänzen, und das tut es schon vorab - musikalisch. Die bezaubernde Irina Nikitina steht dem «Olympus Musicus» vor. Sie hat ihn erfunden, durchgesetzt und animiert ihn mit ihrem Lächeln, ihrer natürlichen Herzlichkeit; von ihren Kleidern (Dolce & Gabbana) einmal ganz abgesehen, obwohl sich von ihnen natürlich schwer nur absehen lässt. Man könnte meinen, man habe meine Freundin Irina, die strahlende Pianistin, zur bestangezogensten Frau Russlands gekürt.
Das aber war überraschenderweise durchaus nicht der Fall. Man hat sie vielmehr mit dem erstmals von den Frauen Russlands verliehenen Staatspreis einer «Frau des Jahres 2001 für Kunst und Kultur» ausgezeichnet. Man hatte sie im Vorjahr auch schon als künftige Kultusministerin Russlands gehandelt. Welch' strahlender Unterschied zu Yekaterina Furtseva, der gefürchteten Kultur-Madame abgelaufener Sowjet-Zeiten.
Jedermann ist glücklich, Irina Nikitina zu Diensten zu sein. Vor allem natürlich auf dem Podium der Philharmonie, dem alten Adelssaal mit seiner schneeweißen Säulenparade. Dort lässt sie die Ukrainerin Nataliya Kovalova, inzwischen der Deutschen Oper am Rhein verpflichtet, singen, dass einem die Ohren vor soviel Lieblichkeit übergehen. Cecilia Bartolis unwiderstehlicher Mezzo-Charme scheint in einen ebenbürtig graziösen Sopran übersetzt. Und wenn Natalya in der «Weißen Nacht», weit draußen in einer Datscha in der Nähe der finnischen Grenze, mit dem Beistand der Balalaika und zahlreicher Wodkas, die ihre hingerissenen Zuhörer trinken, russische Lieder singt, dann scheint man eine glückliche Weile lang geradezu eingekehrt bei Tschechow oder Turgenjew. Irina Nikitina machts möglich.
Frauen an die Spitze! Auch Kissingens Festival wird seit siebzehn Jahren nun schon höchst erfolgreich von einer Dame betreut: Kari Kahl-Wolfsjäger. Schwere Zeiten. Kissingen hing am Finanztropf der Hilfe für die unsäglichen Zonengrenz-Kalamitäten. Es ging nicht einzig ums Musizieren, sondern ums Überleben. Frau Kahl-Wolfsjäger leistete sozusagen künstlerisch Erste Hilfe. Inzwischen ist der «Kissinger Sommer» unter ihrer mild spornenden Hand eine Station für die alljährliche musikalische Seelenkur.
Arcadi Volodos, der offenbar tausendfingrige Pianist, spielt dort gleich mehrfach auf. Orchester von nah und fern sind zu Gast. Die Wiener Symphoniker konzertieren unter Kent Nagano, Christine Schäfer singt zu ihrer Begleitung. Auch Dagmar Schellenberger und Bayreuths Strapazen gewohnter Heldenjüngling Robert Dean Smith treten konzertant auf.
Alles vom Feinsten. Vom Hörenswertesten. Vom Unterhaltsamsten. Ein Festival zum Verlieben. Nicht zum Musik-Durchackern. Merke: Das schiere Musikvergnügen ist den Menschen durchaus zumutbar. Das lehrt Kissingen.