Der Bruder aus Bahia

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Michael Pilz

Eines Abends werfen sich in Rio de Janeiro ein paar tausend Menschen für Gilberto Gil in Schale. Viele können ihn schon sehen, wenn dabei der Fernseher läuft. Gilberto Gil sitzt bei «Big Brother» auf dem Sofa, spielt Gitarre, lacht und singt gemeinsam mit den Insassen sein «Não Chore Mais». Die Narren im Container sind ergriffen. Als das Lied ein Hit war in Brasilien, 1977, waren sie noch gar nicht auf der Welt. Doch jeder kennt hier Gils Version von Bob Marleys «No Woman No Cry». Vor allem darf Gilberto Gil als Volksheld bei «Big Brother» singen, ohne seine Würde zu riskieren. Eine Stunde später gibt er seine Show im Canecão, einem legendären Festsaal Rios.

Im Foyer hat der Poet und Musiker Ronaldo Boscôli den Hinweis hinterlassen: «In diesem Haus wird die Geschichte der Música Popular Brasileira geschrieben.» Die Besucher sitzen aufgeregt an roten Tischen hinter Caipirinha, Sekt und Dosenbier. Dann tritt Gilberto Gil heraus. Vor einem Bühnenbild aus aufgemalten Soundsystemen singt der gute Geist der brasilianischen Musik Bob-Marley-Songs. Und spätestens bei «Não Chore Mais» ist niemand mehr zu halten. Polonaisen winden sich durchs Canecão. Wer zur Regungslosigkeit verdammt in einer Menschenmenge steckt, schwenkt die Arme.

Das hat nicht nur mit ihm, Gilberto Gil, zu tun. Er sagt: «Bob Marley gilt besonders in Brasilien als Held. Er hat die ganze Dritte Welt mit Stolz erfüllt. Wie Ché Guevara.» Brasilianer nennen Gil seit 1977 gern Bob Marleys Bruder aus Bahia. Gil nennt Marley einen «Visionär und Revolutionär aus Kingston». Als Gilberto Gil während der wilden Sechziger begann, Musik zu machen, war er Mitbegründer jener «Tropicalia»-Bewegung. Es ging darum, alt und neu zu mischen. Baião, Avantgarde, Rock, Soul, zu einer «Art von Esperanto» (Gil). Aber es ging auch um Soziales und Politisches. Das Militär regierte, Gil ging ins Gefängnis, später nach New York und London ins Exil. Er traf dort auch Bob Marley. Für sein Album «Kaya N'Gan Daya» war er im vergangenen Jahr wieder in Kingston, in Bob Marleys Tuff Gong Studios. Auch die I-Threes sangen, früher Backgroundsängerinnen bei den Wailers. Selbst Bob Marleys Witwe war dabei, Sly & Robbie, das berühmte Produzentenduo, spielten wieder Bass und Drums.

Auf der Bühne tänzelt Gil nun formvollendet wie einst der große Jamaikaner. «Buffalo Soldier», «Positive Vibration», «Rebel Music». Wesentliches lässt Gilberto Gil nicht aus, und sei es portugiesisch wie «Eleve-se Alto Ao Ceu» («Lively Up Yourself») und «Tempo Só» («Time Will Tell»). Sogar die eigenen Stücke «Esperando na Janela» oder «Novidade» klingen heute wie Marley-Songs. Natürlich hier und da mit Flöte und Akkordeon, der Reggae ist längst eingegangen in die brasilianische Musik.

Dazu erzählt Gilberto Gil, wie er vor 30 Jahren seine Musiker im Tourbus mit Kassetten von Bob Marley unterhielt und einer sagte: «Klingt wie Xote. Nur dass Xote besser ist.» Doch Xote sei nichts anderes gewesen als der erste brasilianische Versuch, sich Reggae anzueignen, freut er sich. Wie zum Beweis spielt Gil auf diese Weise «A Garota de Ipanema». Es fällt auf, wie jung seine Besucher wieder sind. Bei aller Ehrfurcht gelten 60-Jährige wie Gil, Veloso und die Mitstreiter der Tropicalia als alte Akademiker. Der Samba-Reggae seines «Kaya N'Gan Daya» lässt nun 20-Jährige in Rio wieder durch das Canecão tanzen. Nach der Show gewährt Gilberto Gil Audienz hinter der Bühne. Mädchen, die zur Zeit von «Não Chore Mais» geboren sind, bestürmen ihn. Er hebt die Arme, lacht und ruft, am liebsten würde er mit allen singen. Heut Abend spielt er Bob Marley beim Berliner Museumsinsel-Festival.

Museumsinsel, Vor der Alten Nationalgalerie, Mitte. Karten: Tel.: 0800 / 248 89 42. Heute, 20 Uhr.