Keine Kunstsparte hat sich in den vergangenen zehn Jahren so grundlegend gewandelt wie die Literatur. Wir erleben eine Renaissance des Erzählens, erleben die Rehabilitierung der Wirklichkeit als den Stoff literarischer Träume. Dabei sind es immer wieder die Niederländer, die ihren festen Platz auf deutschen Bestsellerlisten behaupten: Cees Nooteboom und Harry Mulisch, Maarten t' Hart und Margriet de Moor. Ihre realiengesättigte Erzählliteratur, vor allem aber ihr Glaube an die Lebendigkeit des Subjekts erhebt die holländische Literatur in den Rang eines modernen Humanismus. Damit hat sie wie keine andere Nationalliteratur seit der Zäsur von 1990 auch deutsche Schriftsteller beeinflusst.
Es ist also kein Zufall, wenn die Jury des WELT-Literaturpreises im vierten Jahr ihres Bestehens einen Holländer ehrt. Und es ist ebenso wenig ein Zufall, dass sie sich für einen Vertreter derjenigen Generation entschied, die jetzt auch in Deutschland im Mittelpunkt des Interesses steht, der Generation der in den fünfziger Jahren Geborenen nämlich.
Leon de Winter, als Sohn niederländischer Juden 1954 in der kleinen brabantischen Stadt s-Hertogenbosch zur Welt gekommen und seit vielen Jahren bei Amsterdam ansässig, ist ein so einzigartiger wie repräsentativer Vertreter der holländisch-europäischen Nachkriegsgeneration. Soeben erschien in Holland sein jüngster Roman, «God's Gym», und wieder zeigt sich allein am Titel jene Prägung durch den amerikanischen way of life, die ebenfalls für die europäische Nachkriegsgeneration typisch ist. Man hat Leon de Winter, der lange in den USA gelebt hat, seines flüssigen Erzählstils halber, aber auch wegen seiner Vorliebe für Selbstfindungsgeschichten humoristisch gezeichneter Antihelden zu Recht mit John Irving verglichen. Doch Leon de Winter verfügt über ein Erbteil, das ihn dann doch gewaltig von Irving unterscheidet und ihm jene Unverwechselbarkeit verleiht, die seine Fans so sehr an ihm schätzen: Es ist die Hinneigung zu Figuren, die, wie er selbst, von Opfern des Holocaust abstammen, von Eltern, die im Versteck die deutsche Besetzung Hollands überlebten und nach der Befreiung ihre Verwundungen an die Kinder weitergaben.
Leon de Winter bringt nun aber vor allem in den stark autobiographisch getönten Romanen «Leo Kaplan», «Hoffmanns Hunger», «SuperTex» und «Zionoco» das Kunststück fertig, mit einer solchen Komik seine Stadtneurotiker zu präsentieren, wie man das sonst nur von Woody Allen kennt. Mit einer Unbefangenheit, die in Deutschland undenkbar wäre, zeichnet er die ruhelosen Juden der «zweiten Generation» auch gern in sexueller Hinsicht als Umtriebige, ohne Angst, antisemitischen Klischees in die Hände zu arbeiten. Dabei zeichnet sich sein Schreiben durch ein meisterliches Gespür für pointierte Dialoge aus, durch die gekonnte Verknüpfung von Haupt- und Nebenhandlungen, die seine Bücher so komplex wie spannend machen. Er wird für sein Gesamtwerk geehrt.