Ein Pianist kommt in die Beratungsstunde. Der 24-Jährige hat gerade sein Konzertexamen mit Auszeichnung gemacht. Aber nun tauchen Beschwerden in den Unterarmen auf. Ursachen sind nicht zu finden, dann erzählt der Pianist seine Geschichte. Eigentlich habe er seinen Beruf schon mit fünf Jahren begonnen, weil der Vater, ein Immobilienmakler, es so wollte. Der Vater hat zwar keine Ahnung von Musik, war aber bei den Unterrichtsstunden immer dabei, stritt mit den Lehrern, auch, wenn sie nicht genug Druck auf ihn ausübten. Heute weiß der 24jährige, dass er sein Instrument hasst. Jetzt möchte er Koch werden.
Der Fall habe ihn berührt, sagt Professor Helmut Möller: «Da ist von Kindheit an viel schief gelaufen». Eltern und Pädagogen haben versagt. Es ist kein Einzelfall. Deshalb will der Mediziner und Psychologe gemeinsam mit der Klavierprofessorin Heide Görtz in Berlin ein Institut für Musikergesundheit ansiedeln. Heute um 17 Uhr ist es soweit: Das Kurt-Singer-Institut wird im Konzertsaal an der Bundesallee offiziell gegründet. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt der eigentlich miteinander konkurrierenden Universität der Künste und der Musikhochschule «Hanns Eisler». Sechs Jahre Vorbereitungszeit haben die Initiatoren gebraucht, Möller spricht von Kreuzzügen gegen ihr Vorhaben.
Denn eigentlich ist es ein Tabubruch: Anders als bei Sportlern, die - siehe Fußballer Deisler - bei Verletzungen geradezu nationales Mitgefühl erzeugen, wollen Musiker ihre Leiden verbergen. Manche Beschwerden wollen Musiker durch mehr Übung ausgleichen. Das sei aber der Anfang der Katastrophe, so Möller. Oft werde schließlich zu Alkohol oder Betablockern gegriffen. «Mit der Aura von Orchestern ist es vorbei, wenn sie einmal in die Geigenkästen schauen, was dort alles zu finden ist.»
In Berlin gibt es 6000 professionelle Musiker, Studenten eingeschlossen. Deutschlandweit wird mit rund 11 500 Berufsmusikern, 25 500 Studenten und 36 000 Musikschülern gerechnet. Ein Drittel der Orchestermusiker ist ernst zu nehmend krank, belegen Statistiken, Dreiviertel haben Beschwerden.
Wobei Möller zugibt, dass nicht alles nur Musikerkrankheiten sind. Lärmbelästigungen sind auch andere Berufsgruppen ausgesetzt. Der Geräuschpegel zwischen 70 und 90 Dezibel im Orchester ist normal, sagt Möller, nur bei großen Blechbläserbesetzungen etwa bei Wagner, wenn 120 Dezibel erreicht werden, komme es auf Dauer zu Hörschäden.
Musiker leiden häufig unter Bewegungsstörungen und Schmerzen im Hals-, Nacken- und Schulterbereich sowie im Unterarm und Handgelenk. Möller hat für sich eine Liste der «gefährlichsten» Instrumente zusammengestellt. An erster Stelle stehen Tasteninstrumente, dann folgen hohe Streichinstrumente, Gitarre, Harfe, Holzblasinstrumente, schließlich die Pauken. Möller selbst spielt Cello, das Instrument lobt er für seine ergonomische Gestalt. Längst gibt es Prototypen für Instrumente, die Haltungsschäden vermeiden sollen. Beim Symposium, dass sich am Sonnabend an die Institutsgründung anschließt, werden auch Modelle speziell für Kinder vorgestellt.
Denn oft wird vergessen: Bis zum Eintritt ins reguläre Studium haben junge Musiker bereits bis zu 18 000 Stunden Übung hinter sich. Bewegungsabläufe sind eingeschliffen. Mit dem Institut möchte der Mediziner Möller deshalb die Prävention fördern. Es geht um Verhaltensweisen, die von klein auf antrainiert werden müssen. So sollten sich Instrumentalisten wie Sportler aufwärmen. Und nach einem Konzert sollten Musiker «nicht gleich in die Kneipe, sondern erst einmal um den Block herum gehen, um die Stresshormone abzubauen.»
Denn auch Musiker stehen unter Leistungsdruck. Lampenfieber gehört zur Kunst, aber immer häufiger wird daraus Präsentationsangst. Wobei die psychomentale Belastung für Bläser in einem Orchester größer ist, weil sie fast immer solistisch spielen. «Streicher können sich mehr verstecken.» Aber das ist bei manchen Pult-Tyrannen sowieso angebracht. «Es gibt einen bekannten Operndirigenten in Berlin, dessen Musiker reihenweise bei mir erscheinen», sagt Möller. Der geliebte und gefürchtete Maestro braucht nur von der Loge aus ins Orchester zu schauen und schon sind einige fast spielunfähig.
In Orchestern sind für Möller Solisten und Stimmführer zwischen 26 und 32 Jahren besonders gefährdet. Die sind hoch begabt und extrem ehrgeizig. Sie bekommen häufig Muskelkoordinationsstörungen, dann lassen sich die Finger nicht mehr einzeln bewegen. Darunter litten auch Robert Schumann und Glenn Gould.