Einmal auf Augenhöhe sein

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Wieland Freund

Die Feindschaft zwischen Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki, sie ist keineswegs so öffentlich, so im Gedächtnis des Literaturbetriebs verankert wie das Hauen und Stechen zwischen Deutschlands Kritikerpapst und dem Nobelpreisträger Günter Grass. Reich-Ranicki hat keinen Walser auf dem Titelblatt eines deutschen Nachrichtenmagazins zerrissen. Stattdessen hat er, dessen Ton bekanntlich rau ist und rauer wurde in den langen Jahren, die er Fernsehen macht, Martin Walser so unfreundlich behandelt wie andere auch. Er hat Walser gelobt und getadelt, er hat ihn angegriffen und in Schutz genommen. Er hat ihn nicht verfolgt, und doch mag es Martin Walser so vorgekommen sein.

Seit Jahrzehnten, seit den historisch gewordenen Tagen der Gruppe 47, stehen beide, Autor und Kritiker, im Licht der literarischen Öffentlichkeit - nebeneinander statt ohne einander, denn am Ende ist die Branche klein. Man kennt sich. Man nimmt sich wahr. Man kann gar nicht anders. Das jüngste Beispiel: die Diskussion um Reich-Ranickis Kanon.

«Selbstverständlich», ließ der Kritiker im Interview mit der Berliner Morgenpost verlauten, «wird in diesem Kanon Martin Walser repräsentiert sein, in dem Band mit den Essays und wahrscheinlich auch in dem Band mit den Geschichten. Aber einen Roman von Walser mit der für den Kanon nötigen Qualität sehe ich nicht.» Eine Ohrfeige ist das nicht unbedingt. Die Mehrzahl der deutschen Schriftsteller der Gegenwart ist gar nicht vertreten.

In der Aufregung um Walsers Rede in der Paulskirche, die zur Walser-Bubis-Debatte führte, ist Reich-Ranicki Walser gar beigesprungen. Auch nicht vergessen ist Reich-Ranickis im Abstand von einem Vierteljahrhundert eher überzogen wirkendes Lob für Walsers Büchlein «Ein fliehendes Pferd». «Diese Geschichte zweier Ehepaare», so ist es noch heute in der Taschenbuchausgabe der Novelle nachzulesen, «ist ein Glanzstück deutscher Prosa unserer Jahre.» Gezeichnet: Marcel Reich-Ranicki. Der Kritiker Wolfram Schütte ist heute gar der Meinung, dass Reich-Ranicki Walser so «zum erstenmal zum Bestseller-Autor gemacht» hat.

Von Feindschaft keine Rede, und auch des Kritikers gewaltige Schelte für den Walser-Roman «Jenseits der Liebe» (1976) ist argumentativ so abwegig nicht gewesen. Auch andere, das Opfer des «realen Sozialismus» Uwe Johnson beispielsweise, irritierte Walsers seltsamer Flirt mit der DKP. Verständlich auch, dass Walsers Kindheits- und Heimatroman «Ein springender Brunnen», der plötzlich ganz andere Töne anschlug, Reich-Ranicki ebenso irritierte wie viele andere auch. Zudem kam der Vorwurf des Kritikers, Walser verharmlose in diesem Roman die Judenverfolgung, nicht von ungefähr. Kommt der Angriff Walsers also aus dem Nichts?

Reich-Ranickis Fernseh-Verriss des Walser-Romans «Ohne einander» anno 1993 war mehr, als auch weniger empfindsame Seelen als die Walsers so mir nichts, dir nichts wegstecken könnten. Walser, der die Sendung gar nicht gesehen haben will, reagierte beleidigt: «Reich-Ranicki», erzählte er anlässlich eines Interviews, «wollte mich übrigens in der ersten Sendung haben, als wenigstens noch geplant war, einen Autor einzuladen. Und ich habe gesagt: ,Kommt gar nicht in Frage, denn das Fernsehen ist nach meiner Auffassung kein Medium für Intellektuelle.'» Walser war offensichtlich gekränkt und ist es bis heute. Mit der Kritik von «Jenseits der Liebe», so zitiert Walser einen «kulturbetriebserfahrenen Menschen» noch Jahre später, habe sich Reich-Ranicki in der FAZ nobilitiert. «Auf deutsch vielleicht: auf das schönste möglich gemacht.»

Spielt Walser also doch die gleiche Rolle für Reich-Ranickis Karriere wie Reich-Ranicki für die Walsers? Oder verbirgt sich hinter Walsers damaliger Aussage nur der fast übermächtige Wunsch danach? Einmal auf Augenhöhe sein mit dem Kritiker? Für ihn so wichtig wie er für einen selbst? Die Frage könnte lauten: Ist es für einen nicht ganz uneitlen Autor wie Walser möglicherweise per se unerträglich, dass im Medienzeitalter der Kritiker dem Autor in Sachen Prominenz zuweilen den Rang abläuft?

Manche von Walsers Aussagen über die Jahre weisen in diese Richtung und zeugen von einer wachsenden Frustration: Da hat Martin Walser wieder ein neues Buch geschrieben und wird im Interview, das doch seinem Buch gewidmet sein und dienen soll, schon wieder nach Reich-Ranicki gefragt, als warte der, wie jener märchenhafte Igel, stets auf der letzten Seite des nächsten Manuskripts, und gewänne das Rennen um die öffentliche Aufmerksamkeit schon wieder. In «Tod eines Kritikers», ließe sich vermuten, wollte nun Walser einmal der Igel sein - und hat sich als Hase doch nur verlaufen.