Schon wieder Regen! Von der Seite stürzt er auf die Passanten ein, weht die Mäntel im Tiergarten hoch und treibt den Menschen auf den Trottoirs die Hüte tief ins Gesicht. Scheinwerfer spiegeln sich auf regennassen Straßen. Um 1920 scheint es in Berlin überhaupt nur geregnet zu haben. Zumindest Lesser Ury muss es so empfunden haben. In seinen Lithografien und Radierungen, die jetzt im Käthe-Kollwitz-Museum zu sehen sind, jedenfalls dominiert der graue Grimmel über Berlin.
Und weil es so viel regnete, da war es ja kein Wunder, dass die Leute ihre Zeit im Kaffeehaus verbrachten. Auch zu Urys Kaffeehausszenen, die vornehmlich in Öl bekannt sind, gibt es eigene Zeichnungen und Radierungen.
Da ist immer wieder der Zeitungsleser, der sich mit seinem kleinen Braunen vom Leben hinter der großen Fensterscheibe zurückzieht, da sind die Damen, die keck über die Schulter blinzeln und sogar ein müder Absinthtrinker, der sich auf einer Kaffeehausbank lümmelt. Auch im grafischen Werk bleibt Ury der Großstadtchronist. Er bleibt ein topographischer Ortsbeschreiber, detailfreudiger Zuseher, selbst in der Radierung meint man den Schaum auf der Molle noch silhouettenhaft zu erahnen.
Nachdem das Kollwitz-Museum vor sieben Jahren das reine malerische Schaffen des Künstlers mit dem Hinweis zeigte, der Zeichner und Grafiker Ury werde demnächst separat mit einer eigenen Ausstellung gewürdigt, hat es dieses Versprechen jetzt eingelöst. In brillanter zeitlicher Kooperation übrigens mit dem Centrum Judaicum, wo ab nächster Woche die biblisch inspirierten Themen Urys gezeigt werden. Weniger gut geklappt hat allerdings eine Kooperation mit dem Kupferstichkabinett des Tel Aviv Museum of Art, in dem große Teile des grafischen Nachlasses und in Berlin nie gesehene Preziosen lagern. Die Ausleihbedingungen erwiesen sich für das Kollwitz-Museum aber leider als unbezahlbar.
Also musste auf private Sammlungen zurückgegriffen werden. Rund hundert Werke hat die Kuratorin Gudrun Fritsch zusammengetragen. Knapp Zweidrittel davon sind tatsächlich reine grafische Werke, der Rest ist dann doch in Öl oder in Pastell. Aber diese Kombination macht Sinn: Auch in der Zeichnung und in der Radierung, die er übrigens erst spät für sich entdeckte, blieb Ury ein Maler. «Malerradierer» wurde er von Zeitgenossen genannt. Wie seine Bilder wirken die meisten Zeichnungen und Radierungen durchkomponiert, keine Spur von flüchtigem Strich. Viele Motive hat er sowohl grafisch als auch malend umgesetzt. Und hier bietet die Ausstellung erhellende Möglichkeiten zum Vergleich. Zum Beispiel an dem Motiv «Nachtimpression», das in verschiedenen Variationen nebeneinander hängt. Zunächst als Kohlezeichnung, die vor 1915 entstanden sein muss, dann als Ölbild aus dem Jahre 1918. Mit Pferdekutsche und Eisenbahn fahren hier das alte und das neue Transportmittel der Zeit durch eine neblig dampfende Nacht. Atmosphärisch dicht bleibt die Szene auch in der sechs Jahre später angefertigten Radierung, die jetzt zwar «Droschke vor Eisenbahnviadukt» heißt, aber dieselbe Bildkomposition aufweist.
Komplettiert wird die Ausstellung durch holländische und andere Landschaften, die Ury auf verschiedenen Reisen eingefangen hat. Zum Beispiel auch an der Themse in London. Da wird es ihm gefallen haben. Schon wegen des Regens.
Lesser Ury - Der Malerradierer. Bis zum 5. August im Käthe-Kollwitz-Museum, Fasanenstr.24 (Wilmersdorf). Täglich außer dienstags von 11 bis 18 Uhr. Eintritt 5 Euro.