Am liebsten thront sie auf ihrem Bett, vor ihren riesigen Fernsehern. Und schaut sich Filme an. Ihre Filme. Die sie aus einer anderen, glänzenden Zeit zeigen. Der Star, der sie war. Wir sehen lange nur das Gesicht der jungen Maria Schell, aus ihren Erfolgsfilmen. Dazwischen immer wieder ihre alte, faltige Hand, die auf der Fernbedienung ruht. Und die Finger, die sich bei der eigenen Retrospektive genüsslich reiben. «Guckst du dir wieder deine alten Filme an?», fragt, streng und mitleidig zugleich, ihr Bruder. Sie rechtfertigt sie: «Ich war glücklich damals.» Und dann, nach langer Pause: «Ist doch interessanter als die Realität.»
Maria Schell war einst eine der Größten des Filmgeschäfts. Sie zog die Deutschen millionenfach ins Kino, gewann internationale Preise, drehte in Hollywood. Eine der wenigen deutschsprachigen Weltstars. Das alles scheint vergessen. 1992 misslang ein Selbstmordversuch. Den Tod ihrer Mutter, der Schauspielerin Margarethe Noé, vor fünf Jahren hat sie nie ganz verwunden. Seitdem lebt sie in einer anderen Welt, wirkt wie weggetreten. Sie hat ungedeckte Schecks unterschrieben, ihr Besitztum sollte zwangsversteigert werden. Der Bruder sprang ihr bei, verkaufte wertvolle Gemälde, um ihre Schulden zu tilgen. Auch das scheint sie alles nur vage mitzubekommen - und kaum zu verstehen.
Jetzt hat Maximilian Schell einen Film über sie gemacht: «Meine Schwester Maria». Lange galt der vier Jahre Jüngere nur als der kleine Bruder. Jetzt ist sie die ältere Schwester. Doch einen Zwist, Eifersucht gar scheint es zwischen ihnen nie gegeben zu haben. Im Gegenteil: «Du hast die Familie zusammengehalten», bedankt er sich, in der rührendsten Szene der Dokumentation, wenn er ihre Hand hält.
Vor neun Jahren hat Maximilian Schell schon mal ein Porträt über einen außergewöhnlichen Star gedreht: «Marlene». Er durfte die Diva, ein absolutes Privileg, in ihrer Wohnung besuchen. Durfte sie Tage lang interviewen. Drehen durfte er nicht. Damit schien der Film tot. Doch Schell machte aus dem Dilemma das eigentliche Faszinosum: sich einer Unerreichbaren zu nähern. Maria lässt sich ablichten, fast scheint sie dankbar, dass wieder eine Kamera vor ihr surrt. Dafür ist sie im Gespräch schwerer zugänglich. Und so nähert sich der Regisseur auch ihr über Umwege.
Die Kamera stakst erst durch kniehohen Schnee, umschleicht lauernd das alte Kärntner Gutshaus der Schells, blickt verstohlen durchs Fenster. Lange hört man nur die Stimme der Schwester, lange respektiert der Bruder, der Regisseur die Fernseher vor ihrem Bett als eine Schutzgrenze, die er nicht übertritt. Doch irgendwann lässt er die Sicherungen herausdrehen, spricht von Stromausfall. Die Fernseher erlöschen, und die Familie überfällt sie im Dunkel mit Kerzen. Jetzt erst, nach über einer Viertelstunde, sieht man sie ganz: die 76-Jährige, im Kreis ihrer Lieben.
Ein seltener Moment, zumindest für die Öffentlichkeit. Denn niemals in ihren jahrzehntelangen Karrieren hat man die beiden Schells, Maria und Maximilian, in einem Film zusammen gesehen. Erst jetzt, in diesem berührenden Porträt der Schwester, die auch viel über den Bruder erzählt. Er spricht, seltsam genug, auch in ihrem Beisein, von «seiner» Mutter. Er zeigt das Unzeigbare, lässt Polizisten und Finanzbeamte in sichtlich gestellten Szenen die einstige Pfändung nachspielen. Bei der wichtigsten Frage aber, wie das war bei dem Selbstmordversuch, nimmt er sich zurück, überlässt seiner (damaligen) Frau Natasha - sie haben sich inzwischen getrennt - die Fragen. Auf englisch. Das schafft Distanz.
Der Bruder schließlich zwingt die Schwester, die kaum das Bett und fast nie das Haus verlässt, ins Freie: Wer leben will, muss sich bewegen. Er stützt sie, geht mit ihr, der das Gehen so schwer fällt, jeden Tag ein Schrittchen weiter. Und irgendwann schafft sie es, sogar ganz allein. Bis hinüber zu der kleinen Hütte. Dort, wo alles begann. Wo sie alle geboren wurden.
«Wie kann man der Maria helfen?» Das ist der erste Satz in diesem Film, Maximilian stellt sie einem Neurologen, der, ganz Mediziner, anhand von Röntgen- und Ultraschallaufnahmen erklärt, dass nicht ihre Bewusstseinsebenen gestört seien, aber deren Zusammenspiel sich verschoben habe, sie also in einem eigenen Reich lebe, einem Zwischenparadies. Der Bruder freilich hat die Frage da schon längst schon selbst beantwortet. Mit dieser liebe- wie würdevollen Hommage, die seine fast schon vergessene Schwester noch einmal in den Mittelpunkt des Interesses rückt.
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