«Ihre Freiheit ist unsere Niederlage»

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«Lieber Herr Walser, Ihr neuer Roman wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis. Nur ein kleiner Zirkel von Eingeweihten kannte bisher den Inhalt. Mittlerweile kenne auch ich ihn. (. . .) Sie selbst haben uns (. . .) die Fahnen gegeben. Sie wünschen, daß Ihr neuer Roman, ,Tod eines Kritikers', in dieser Zeitung vorabgedruckt wird. ( . . .) Ich muß Ihnen mitteilen, daß Ihr Roman nicht in dieser Zeitung erscheinen wird. (. . .) Ihr Roman ist eine Exekution. Eine Abrechnung - lassen wir das Versteckspiel mit den fiktiven Namen gleich von Anfang an beiseite! - mit Marcel Reich-Ranicki. Es geht um die Ermordung des Starkritikers. (. . .) Am Ende die Aufklärung: Der Kritiker ist nicht tot, er hat nur tot gespielt, um sich mit seiner Geliebten zu vergnügen. (. . .) In Wahrheit aber: die Beschreibung eines Verhängnisses, das sich in André Ehrl-König alias Marcel Reich-Ranicki über die Literatur in Deutschland legt. (. . .)

Ich aber halte Ihr Buch für ein Dokument des Hasses. (. . .) Ihr Buch ist nichts anderes als eine Mordphantasie. Daß der Mord keiner ist, macht die wonnevolle Spekulation unangreifbar. (. . .) Doch es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker. (. . .) Es geht um den Mord an einem Juden. (. . .) Natürlich kann Ihr Kritikerpapst nicht richtig Deutsch. Ihr Reich-Ranicki sagt nicht «deutsch» sondern «doitsch» (. . .) und er hat einen kapitalen Messiaskomplex. (. . .)

Als Adolf Hitler seine Kriegserklärung gegen Polen formulierte (. . .) war dies auch eine Kriegserklärung an den damals in Polen lebenden Marcel Reich und seine Familie. Nicht viele europäische Juden haben diesen Satz von Adolf Hitler überlebt. (. . .) Zwei davon (. . .) sind (. . .) Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila. Verstehen Sie, daß wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, daß dieser Mord fiktiv nachgeholt wird? Verstehen Sie, daß wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?

Ich muß diese Absage öffentlich machen. Sie haben bereits vorauseilend die Vermutung geäußert, eine Absage wäre nur auf den undurchschaubaren Einfluß Marcel Reich-Ranickis zurückzuführen. Doch die reale Hauptfigur Ihres Romans weiß nichts von diesen Vorgängen. Es gibt keine Verschwörung. Sie, lieber Herr Walser, haben oft genug gesagt, Sie wollten sich befreit fühlen. Ich glaube heute: Ihre Freiheit ist unsere Niederlage. Mit bestem Gruß Frank Schirrmacher»