Des Müllers Lust

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Peter Hans Göpfert

Hier hatte das Theatertreffen zu früher Abendstunde sein Wallfahrts-Ereignis. Und wer bis jetzt noch glauben konnte, die Jury habe mit ihrer Dreifach-Einladung des Zürcher Schauspielhauses und der Nominierung von Christoph Marthalers Produktion «Die schöne Müllerin» eine Sympathie-Bekundung für den bedrängten Intendanten ableisten wollen, sah sich vom Vorurteil kuriert.

Hier, in der Musik, ist der eigenwillige szenische Bilderfinder - um schon mal in die Natur zu schweifen - in seinem eigensten Garten. Anders als bei seiner «Unanswered Question» versagt sich Marthaler diesmal einen schmerzhaften kulturkritischen Schock. «Die schöne Müllerin» lässt sich mühelos und vergnügt auch von Betrachtern genießen, denen sich nicht unbedingt die untergründigen Sinn- und Motiv-Quellen erschließen (und der Bach spielt dabei eine herausragende Rolle!). Der Andrang nach den Programmheften mit interpretierenden Texten war im Anschluss an die Vorstellung schon sehr auffallend.

Für die Treptower «Arena» als Aufführungsort sprach nicht nur die vergleichbare Lage des Premierenorts in Zürich, der neuen «Schiffbauhalle», sondern auch die wuchtige Dimension des Bühnenbilds von Anna Viebrock. Diese Installation eines abgewirtschafteten Gemäuers ist allerdings praktischerweise das Recycling der zurückliegenden Marthaler-Produktion «Hotel Angst». Nichts von schöner Maien-Natur. Keine Blumen. Vögel ausgestopft. Natur - weggebunkert. In den verschiedenen Zimmern und Hallen dieser Absteige lassen sich mühelos verschiedenste Assoziations- und Erinnerungsräume möblieren.

Denn Marthaler ist weit entfernt, etwa nur die in Franz Schuberts hochberühmtem Liederzyklus erzählte Geschichte zu illustrieren. Die dafür verwendeten Gedichte waren Ergebnis übrigens eines Berliner Salon- und Laienspiels im Haus des Geheimen Staatsrats von Stägemann mit prominenter Besetzung, verfasst von Wilhelm Müller, dem von Heinrich Heine über den grünen Klee gelobten, heute eher nachsichtig betrachteten, als «Griechen-Müller» katalogisierten Dichter.

Es ist die traurige Geschichte vom Müllerburschen, der sich in eine Müllerin verliebt, in deren Gunst aber von einem Jäger ausgestochen wird und den Freitod im Wasser sucht - mit der höchst bemerkenswerten Pointe, dass dem Ertrunkenen nicht ein Mensch, sondern das Gewässer selbst, der Bach, das «Gute Ruh, Gute Ruh! Tu die Augen zu!» (bei Marthaler schon zu Anfang) nachruft.

Marthalers Ironie erreicht musikalisch und spielerisch die verschiedensten Aspekte dieses Werkes, das Hohe und das Triviale. Sie stiehlt etwa der «Wanderschaft» den herkömmlichen Anschein von Mühelosigkeit, wenn eine dralle Version der hier in doppelter Gestalt auftretenden Müllerin in nicht endender Wiederholung jenes sattsam bekannte «Das Wandern ist des Müllers Lust» knattert. Die latente Sexualität einer als romantisch ausgegebenen «Sehnsucht» ist allgegenwärtig - etwa in den mit Pin-up-Kerlen gespickten Spinden der Müllerinnen. Sie werden von einem Defilee der entblößten und gar nicht so knackigen Männer, Wanderschuhe in der Hand, konterkariert.

In immer neuen körpersprachlichen, tänzerischen und akrobatischen Formationen erkundet und kritisiert Christoph Marthaler den Subtext der Erzählung. Die von der aktuellen Musikforschung in realistischerem Lichte betrachtete Biografie des Komponisten, insbesondere ihre homosexuellen Aspekte werden beleuchtet. Vor allem aber geht Marthaler der musikalischen Vortrags- und Aufführungspraxis an den Kragen.

Neben den hochelastischen und mit gehörigen Volkslied- und Fistelstimmen gesegneten Spielern sind zwei professionelle Sänger im Einsatz. Die Sopranistin Rosemary Hardy gibt, im langen Konzertkleid, den Part der traditionellen Vortragskünstlerin: eine Klavier- oder Sangeslehrerin aus dem Bilderbuch. Der Tenor Christoph Homberger dagegen agiert in einer schillernden Doppelrolle aus Kostüm-Wanderbursch und Liederabendsänger. Er dreht schon mal die Sicherungen aus dem Beleuchtungskasten. Singt auch aus mächtig gedaunter Hotelbetten-Tiefe. Und beim «Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein ...» bleibt er mit seiner Leibesfülle glatt im zu engen Schrank hängen, dass ihn nicht einmal eine Kette aller Mannsbilder aus der misslichen Lage befreien kann.

Denn natürlich wird auch diese Inszenierung aus einem Füllhorn Marthalerschen Humors und höheren Blödsinns gespeist. Wobei wir nicht verschweigen wollen, dass es da so manches fröhliche Wiedersehen gibt. Es ist schon toll, welche phänomenalen Stürze (horizontal!) einzelne und siamesisch verbundene Darsteller von hoher Podestbrüstung lebend überstehen. Oder wie sie die Treppenstufen des Hotels hinaufkullern.

Natürlich ist dies nicht die pure «Müllerin». Marthaler hat die Texte des Zyklus mit weiteren Schubert-Liedern durchschossen. Hie und da, nicht auf Anhieb kenntlich, gibt es etwa Texte von Robert Walser oder Sylvia Plath. Und als musikalisch-textlichen Schreckschuss hört man Brecht-Eislers «Über den Selbstmord».

Die Inszenierung ist ungeheuer unterhaltsam und vergnüglich. Wo man sie nur auf diese Wirkung hin betrachtet, hat sie auch Leerstellen. Und: sie pflanzt dem Zuschauer/Hörer schließlich eine nachdrückliche Melancholie in Kopf und Herz. Die Komödie ist ja tragisch. Und jenes verzweifelte Fis, das als einziger wiedergekäuter Ton auf der Celesta angeschlagen wird, nur einem von vielen Tasten-Instrumenten auf der Bühne («Grabt mir ein Grab im Wasen, Deckt mich mit grünem Rasen, Mein Schatz hat's Grün so gern»), begleitet den Besucher noch auf der Rückfahrt.