Letzte Zeugen der Vergangenheit

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Sven Felix Kellerhoff

«Die Strafen richten sich nach der Art des Vergehens: Verräter und Überläufer hängen sie an Bäumen auf; Feiglinge und Kriegsscheue und Unzüchtige versenken sie in Sumpf und Morast und werfen noch Flechtwerk darüber.» Das berichtet der römische Historiker Tacitus im 12. Kapitel seines Werks «De Origine et Situ Germanorum» über das Gerichtswesen der Germanen.

Jahrhundertelang war dieses Buch Pflichtlektüre an deutschen Gymnasien - und daher überrascht es kaum, dass die in Nordwesteuropa auftauchenden «Moorleichen» stets als Hinrichtungsopfer gedeutet wurden. Über tausend menschliche Körper sind seit Anfang des 19. Jahrhunderts beim Torfabbau entdeckt worden.

Alles Feiglinge, Kriegsscheue und Unzüchtige? Die jetzt in Hannover eröffnete Ausstellung «Der Tempel im Moor» unternimmt den Gegenbeweis: «Aus den Mooren stammen zahlreiche Funde, die (...) am wahrscheinlichsten durch religiöse Vorstellungen und kultische Praktiken zu erklären sind.» Ganz neu ist diese Deutung zwar nicht. Aber noch nie wurden so viele Indizien für die Interpretation der Moorleichen als Menschenopfer auf einmal gezeigt. Und noch nie konnte man so viele der im Moormorast teils hervorragend konservierten, teils nur noch als Abformungen erhaltenen Toten an einem Orte sehen. Möglich wurde das durch die Kooperation eines holländischen Museums, zweier kanadischer Häuser und des Niedersächsischen Landesmuseums.

Die frühesten Funde von Artefakten in nordwesteuropäischen Hochmooren - Bündel von Tierknochen - sind rund 10 000 Jahre alt. Genau wie die fast immer unbeschädigten Metallgefässe und Schatzfunde lassen sich diese Funde ausschließlich kultisch erklären. Darauf deuten auch die wichtigsten Exponate, die Moorleichen. Mit dem «Mädchen von Yde» und dem «Roten Franz» aus Hannover sind zwei der bedeutendsten Funde in der Schau zu sehen. Intensive gerichtsmedizinische Untersuchungen haben neue Erkenntnisse gebracht. So steht jetzt fest, dass der «Rote Franz» zu Unrecht so heißt: Sein scheinbar rotes Haar war in Wirklichkeit blond und hat sich durch die rund 1500 Jahre Lagerung im Moor verfärbt. Die Rekonstruktion seines Gesichts gehört zu den Höhepunkten der Schau. Auch vom «Mädchen von Yde» ist eine Gesichtsrekonstruktion zu sehen - in einer hervorragenden Inszenierung, überlagert von einer dreidimensionalen, scheinbar lebendigen Projektion.

Insgesamt jedoch ist die Ausstellungsarchitektur leider enttäuschend. Im ersten, aus konservatorischen Gründen abgedunkelten Raum kommen die Exponate in ihren Vitrinen auf Hüftniveau kaum zur Geltung. Und die Internationalität der Schau erweist sich andererseits als Manko: Die reichlich naiven, gemalten Annäherungen an das Leben der Germanen sind für deutsche Besucher langweilig, so wie das mehrsprachige Begleitbuch ungeschickte, teils falsche Formulierungen aufweist.

Beim insgesamt 1,5 Millionen Euro teuren Projekt «Der Tempel im Moor» und der noch einmal 350 000 Euro kostenden Station in Hannover zeigt sich, dass Gestaltung nicht alles ist. Doch diesen Makel machen die teilweise herausragenden Exponate wieder wett.

Der Tempel im Moor. Ausstellungshalle Forum des Landesmuseums. Am Markte 8, Hannover. Bis 1. September Di-So 10-17, Do 10-19 Uhr. www.tempel-im-moor.de