"Wir haben ihm viel zu verdanken"

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Johannes Rau

Ernst Cramer schrieb mir neulich, "leider" seien die Feiern zu seinem "methusalemischen Geburtstag wohl notwendig". Da widerspreche ich dem Geburtstagskind. Erstens wurde Methusalem - der Sohn des Henoch, dessen Name "Mann des Wurfgeschosses" bedeutet - bekanntlich 969 Jahre alt. Ernst Cramer ist also (nicht nur) "methusalemisch" gesprochen ein Jugendlicher.

Zweitens ist die Formulierung "leider notwendig" eine allzu bescheidene Untertreibung für ein Ereignis, das wahrlich Grund zur Freude und zum Feiern ist: der neunzigste Geburtstag eines Journalisten, der viel für unser Vaterland getan und der auf unverwechselbare Weise Zeitgeschichte mitgeschrieben hat.

Ernst Cramer ist ein Mann der Erinnerung und der Versöhnung. Drei Schwerpunkte hat er zum Gegenstand seines Denkens, seines Schreibens, seines Handelns, seines Lebens gemacht. Schwerpunkte, die er mit seinem langjährigen Freund Axel Springer geteilt hat und die zum ethischen Handgepäck jedes Journalisten gehörten und gehören sollten, der beim Axel-Springer-Verlag schreibt.

Der erste Schwerpunkt war die Einheit Deutschlands, die nirgendwo so schmerzlich vermisst wurde wie in Berlin, der Stadt, in der Ernst Cramer seit über vierzig Jahren lebt und arbeitet - wenn er nicht in New York, Hamburg oder in Israel ist. Ernst Cramer hat auf die deutsche Einheit gehofft, als viele die Hoffnung längst aufgegeben hatten.

Als sich die Wiedervereinigung abzeichnete, nahm er mit all seiner Glaubwürdigkeit und Besonnenheit Skeptikern im In- und Ausland die Angst vor einem größeren Deutschland. Die Deutschen hat er gemahnt, Augenmaß zu bewahren und die Einheit als Chance, nicht als Schicksal zu begreifen. Der zweite Schwerpunkt seines Wirkens ist die deutsch-amerikanische und die transatlantische Partnerschaft. Wie nur wenige andere setzte sich Ernst Cramer, der nach seiner Emigration aus Hitlerdeutschland selbst US-Bürger geworden und als Mitglied der US-Army in seine deutsche Heimat zurückgekehrt war, für die Hinwendung Deutschlands zum Westen und für die deutsch-amerikanische Freundschaft ein. Er tat das besonders auch in Zeiten, in denen diese Freundschaft nicht selbstverständlich erschien. Ich denke an die Zeit des Vietnam-Krieges, ich denke auch an die vergangenen Monate, in denen Ernst Cramer viel geleistet hat, um gegensätzliche Standpunkte einander zu erklären und Missverständnisse zu beseitigen.

Schließlich die Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel, zwischen Juden und Christen - vielleicht der wichtigste und der prägendste Schwerpunkt im Wirken Ernst Cramers. Wer Jüngeren etwas über das Verhältnis zwischen Juden und Christen in Deutschland nahe bringen will, der muss historische Erfahrung und Erinnerung vermitteln. Ernst Cramer hat seine Erfahrungen gemacht. "Die Zahl von sechs Millionen Toten ist für jeden Menschen unfassbar, unbegreiflich, nicht nachvollziehbar, auch für mich", schrieb er einmal. "Wenn ich aber an meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder denke, weiß ich genau, wovon ich rede."

Wir haben Ernst Cramer viel zu verdanken. Wir danken Ernst Cramer für seinen journalistischen, seinen verlegerischen und seinen politischen Beitrag zur Geschichte und Gegenwart unseres Landes und wir freuen uns weiterhin auf sein Wort, das geschriebene, das in Artikeln und Buch geäußerte und das gesprochene, weil wir wissen, es ist ein Wort von Gewicht, es hat seine Deckung in einem Leben der Glaubwürdigkeit, auf das wir dankbar und respektvoll sehen.

Wir danken Ernst Cramer für ein reiches Leben, ein schweres, oft belastetes Leben, das andere reicher gemacht hat. Er schrieb einmal, "die Schreckenszeit aus unserer Vergangenheit dürfen wir um unserer Zukunft willen nie vergessen". Wir wünschen uns, dass Ernst Cramer diese Mahnung noch lange Zeit an die Menschen in unserem Land weitergibt.

Johannes Rau ist der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland