Man traut seinen Augen nicht, wenn man im "New York Herald" liest: "Jemand, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hat warten müssen, um diejenige zu sehen, die die Welt die größte Schauspielerin des 19. Jahrhunderts nannte, verließ die Metropolitan mit dem Gefühl, niemals ein menschliches Wesen von solch leuchtender und durchsichtiger Schönheit gesehen zu haben."
So jedenfalls schrieb Alexander Woollcott über den Auftritt der 64-jährigen, weißhaarigen, ungeschminkten Eleonora Duse in New York. Sie hatte Ibsens "Frau vom Meer" gespielt, noch dazu auf Italienisch. Man schrieb das Jahr 1922. Die Welt wurde nicht müde, sich vor der Duse anbetend auf die Knie zu werfen, doch man kniete in der besten und denkbar internationalsten Gesellschaft. Gerhart Hauptmann ("Die Duse ist die Kunst selbst") und George Bernard Shaw, Alfred Kerr ("Bei der Duse hört man die Ewigkeit rauschen") und Luigi Pirandello haben ihren Lobpreis gesungen, gleichfalls Hugo von Hofmannsthal ("Sie ist das ruhmbeladenste Geschöpf der Erde"). Auch Rilke hat sie angedichtet.
Den Staunen erregenden, der Duse gewidmeten Band "Bildnisse und Worte", von Francesco von Mendelssohn und Bianca Segantini, 1926 in Berlin herausgegeben, habe ich kürzlich durch reinen Zufall antiquarisch erworben. Er lehrt: nicht einzig die Gerühmte, auch das Gerühme hält der Ewigkeit stand.
Daraus könnte man lernen. Denn das Rühmen, noch dazu das rückhaltlose, scheint aus der Mode gekommen. Es herrscht die denkbar kunstlose Kunst der Verrisse. Es wird gemäkelt, dass Gott erbarm. Immerfort scheint Gift in die Computer-Tinte geraten. Theater- und Musikberichte lesen sich neuerdings, schwarz umrandet, wie Börsennachrichten vom Neuen Markt mit seinen ständig fallenden Kursen. Jedermann schlägt jederzeit eine scharfe, zusätzlich sorgsam vergiftete Klinge. Hackepeter scheint die allseits verlangte, die Muskeln schwellen lassende Roh-Kost.
Dabei gilt es doch gerade in diesem Januar künstlerischer Leistungen zu gedenken, die vor genau zehn Jahren zu Grabe getragen wurden und denen man kaum weniger hinterher trauert als einst der großen Duse. Der großäugige, zarte Leinwandliebling der ganzen Welt ging dahin: Audrey Hepburn starb, lauthals von der Welt beklagt. Rudolf Nurejew, auch er vor zehn Jahren dahingegangen, ist eine Gedenkausstellung im Wiener Theatermuseum gewidmet. Zu seinem Gedächtnis ist ein Katalog (auch als gebundenes Buch erhältlich) erschienen. Auch ich habe dazu einige Erinnerungen an den großen Tänzer beigetragen.
Vor allem aber hat mich, Seite um Seite, aus der stolzen Reihe der Abbildungen dieser unvergessliche, einzelgängerische Mensch wieder angesehen: ein Buch wie ein Augenaufschlag. Es entfaltet das Bild eines Jünglings, der tanzend die Welt zu bewegen verstand; der mit Charisma gesegnet und geschlagen war. Vielleicht starb er sogar an diesem Charisma und nicht einzig an Aids. Der Mann war offensichtlich gefährdet und dies von klein auf.
Er tanzte unermüdlich das große Trara: die immerwährende Auferstehung der Kunst. "Die Magie und Gloria eines wundersamen Menschen leuchtet in unergründlichem Feuer", hat Alfred Kerr im Anblick der Duse einst konstatiert. Er hätte dieses einzigartige Leuchtfeuer auch um Nurejews Haupt ausmachen können.