An der Wiedergeburt des Landes mitarbeiten

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Melvin J. Lasky

Wir bezeichnen das Alter, das Ernst Cramer erreicht hat, gewöhnlich als "biblisch" - die schöne runde Zahl 90 kann sich zwar bei weitem nicht mit Methusalems Leistung messen, aber mögen wir auf noch rundere Geburtstage anstoßen! Biblisch ist das Ganze in mehr als einem Sinne.

Erstens klingt in dem Wort biblisch etwas an, das einmal die "jüdisch-christliche Tradition" genannt wurde (bevor wir Angst davor bekamen, andere monotheistische Religionen zu beleidigen). Ernie ist ein wunderbares Beispiel dieser Tradition, da er all jene Primär- und Sekundärtugenden in sich vereint, die sie zur Leitkultur unserer Zivilisation gemacht haben. Ernie war immer ein treuer Freund, herausragend in seinem Beruf, ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch (und effizient, pünktlich und ordentlich obendrein).

Mehr noch, es spiegeln sich die aufwühlenden Geschichten des Alten wie des Neuen Testaments, die von Krieg und Frieden, Unterdrückung und Exil, Entfremdung und Versöhnung handeln, in den Phasen wider, die Ernies Leben begleiteten und prägten.

Wie stark und unverwüstlich muss einer sein, der gezwungen wurde, aus dem Land seiner Geburt zu fliehen, um das eigene Leben zu retten, dessen Vater und Mutter in der alten Heimat ermordet wurden, der Zuflucht suchen musste in einem weit entfernten Land?

Stark und unverwüstlich genug, um ein 20. Jahrhundert zu überleben, das die entsprechenden Abschnitte der Bibel über Armageddon und Holocaust noch in den Schatten stellte, das Massenmord und Vernichtung, Rache und Aussöhnung brachte, aber auch die daraus zu ziehenden Lehren, damit die Wiederholung ein solches Ausmaßes an Schrecklichkeit ein für alle Mal vermieden werde.

Ja, wir begehen einen biblischen Geburtstag, und das Geburtstagskind ist ein Zeitzeuge, der stets ein Mann von Charakter und Intelligenz gewesen ist, der einen realistischen Blick auf die Vergangenheit hatte und rechtzeitig vor Fehlern in der Zukunft warnte.

Wir lernten uns in München kennen, in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, und wurden Freunde. Ich verabscheute die Stadt zutiefst, aber Leutnant Ernest Cramer blühte förmlich auf. Ich war am 30. April 1945 mit der US-Armee aus Dachau gekommen, jenem Ort des Grauens; doch mein Freund hatte mit dem Horror der KZs irgendwie seinen würdevollen Frieden geschlossen.

Ich verabscheute die Büros der ehemaligen Nazis, in denen Ernie und ich arbeiten mussten, nämlich die riesige Münchner Druckerei, in denen nur einige Jahren zuvor Goebbels seinen Völkischen Beobachter hatte drucken lassen. Leutnant Cramer war begeistert, dass die hochmodernen Maschinen den Krieg unversehrt überdauert hatten und er nun - zusammen mit Major Hans Habe und Hauptmann Hans Wallenberg sowie anderen Offizieren der amerikanischen Besatzungstruppen - eine neue freiheitliche Ära des demokratischen Journalismus begründen konnte, vor allem durch die Herausgabe, den Druck und Vertrieb der exzellenten "Neuen Zeitung". Ich verabscheute es, jeden Monat von Berlin in die Münchner Schellingstraße fahren zu müssen, wo die Eckkneipe eine "Osteria" war, in der Adolf Hitler einmal (oder zweimal) mit Miss Unity Mitford zu Mittag gegessen hatte (und der Gastwirt nie müde wurde, uns vom entwaffnenden Charme des "Führers" erzählen). Ernie scherte sich nicht um derlei Lappalien; er war ein Enthusiast, dem seine brillante N.Z. und ein Wochenblatt namens "Heute" mehr am Herzen lagen und auf die er stolz war, wie natürlich auch auf den "Monat", den ich herausgab.

Ernst Cramer war Mitglied einer bemerkenswerten Gruppe von Emigranten, die voller Verzweiflung ausgewandert und später siegreich zurückgekehrt waren, und die dann blieben, um an der Wiedergeburt ihres Landes mitzuarbeiten. Die meisten Emigranten, die ich in der Besatzungsarmee kennen gelernt hatte, gingen so schnell sie konnten wieder "nach Hause". Nur eine Handvoll blieb da. Drei der hervorragendsten Persönlichkeiten - Habe, Wallenberg, Cramer - blieben weiter in Deutschland und leisteten nicht nur Außerordentliches bei der Ausweitung der Publikationen des Axel Springer, sondern für die Bundesrepublik überhaupt: sie halfen beim Bau ihres demokratischen Fundaments, trugen bei zu zivilisierter Toleranz und freiheitlichem Ethos.

Und das ist längst nicht alles. Es gab da auch noch den entscheidenden Aspekt der Weltanschauung. Ernie Cramer besaß die glückliche Gabe, ein modernes Phänomen zu begreifen, das wenige Journalisten und Denker so klar durchschauten wie er: den Totalitarismus. Er wusste, dass es sich dabei um kein ausschließlich deutsches Phänomen handelte, denn Stalins sowjetrussisches Regime war genauso zerstörerisch und verbrecherisch wie Hitlers Nazireich. Ernie Cramer konnte man nie unter den Apologeten der einen oder der anderen Diktatur finden. Als Leitartikler bewies er klaren Durchblick und ein Gespür für Zusammenhänge; dies machte ihn zum Kalten Krieger par excellence. Und als der Kalte Krieg vorüber war, kam ihm diese Klarsicht gut zustatten, als wir uns mit neuen globalen Krisen auseinanderzusetzen hatten, besonders mit der Bedrohung durch Terrorismus und Massenvernichtungswaffen.

Im Alter von 90 Jahren erleben wir einen Ernst Cramer, der immer noch aufrecht für die gute Sache und die Werte der Menschlichkeit schreibt, nicht anders, als ich ihn vor einem halben Jahrhundert in der Schellingstraße vorgefunden habe. Ad multos annos!