Was ist Lebensqualität? Darf man beim Sterben helfen? Das wird jetzt wieder im Bundestag diskutiert. Ein neues Buch bietet einen persönlichen Zugang zu diesen existenziellen Fragen: Monika Prause war unheilbar krebskrank und entschied sich, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden

Sie war 35 Jahre alt, als sie an Brustkrebs erkrankte. Das war 1990. Nach zehn Jahren fand man erneut Metastasen, sie wurde wieder operiert. Dann galt Monika Prause, Buchhändlerin und Mutter von zwei Söhnen, als geheilt – bis im Frühjahr 2013 der Krebs mit Wucht zurückkam. Unbemerkt hatte er ihre Wirbelsäule befallen, war ins Rückenmark eingedrungen, verursachte schlimme Schmerzen. Jeden Moment, sagten die Ärzte, könne ihre Wirbelsäule brechen.

Das war der Moment, in dem Monika Prause entschied, so lange sie noch handlungsfähig ist, mit Hilfe des Schweizer Sterbehilfevereins Dignitas ihr Leben zu beenden. Ihre Bitte an ihren Mann Volker und die Söhne Henrik und Marten: „Unterstützt mich, lasst mich nicht allein!“

Am 8. Juni 2013 starb Monika Prause in Zürich – in den Armen ihres Mannes, im Beisein ihrer Söhne. Im jetzt erschienenen Buch „Der Himmel so weit“ rekonstruiert Volker Prause auf ergreifende Weise die sechs Wochen des Abschieds und dokumentiert die Gedanken und Gefühle von seiner Frau, von sich selbst und den Söhnen, von Freunden und Bekannten. Und er zeigt auf, dass die Entscheidung gegen das Leben und für den Tod alles andere als ein leichter Ausweg ist. Im Gegenteil, wie dieser Buchauszug zeigt. Er schildert die Ankunft von Monika, genannt Moni, und Volker Prause in der Schweiz, wo das Paar zum ausführlichen Gespräch mit einem Arzt verabredet ist – eine der Voraussetzungen für eine Freitodbegleitung durch Dignitas. Die Erzählung gibt die Perspektive von Volker Prause wieder:

Bei Schaffhausen überqueren wir die Grenze. Kurz darauf beginnt es zu regnen. Erst zögernd, dann heftig. Ich stelle den Scheibenwischer auf höchste Stufe. Ich fasse das Lenkrad fester und lasse den Blick nicht von der Straße. „Willst du vielleicht noch eine Tablette nehmen?“

„Ich habe schon die doppelte Dosis genommen.“

„Soll ich anhalten? Wollen wir eine Pause machen?“

„Nein, lass uns durchfahren.“

An einer roten Ampel schaue ich zu ihr hinüber. Sie ist blass. Ihre Lippen zwei dünne Striche.

Wir sind zu früh in Zürich. Es ist Mittag, und wir suchen ein Restaurant. Wir bestellen Salat und Suppe, etwas zu trinken. Wir haben beide keinen Appetit.

Ich bezahle, und wir steigen wieder ins Auto.

Als ich kurz vor 14 Uhr vor dem Haus, dessen Adresse man uns per Mail genannt hat, parke, atmet Moni auf. Es regnet immer noch, und ich gehe mit dem Schirm ums Auto. Beim Aussteigen hält sie sich an mir fest. Sie presst die Lippen aufeinander. Als der Schmerz nachlässt, atmet sie ein paarmal tief durch. Die Luft ist feucht, aber frisch. Ich helfe ihr, das Exoskelett (eine künstliche Stütze für die Wirbelsäule, d. Red.) anzulegen. Plötzlich spüre ich, wie verspannt meine Schultern sind.

In der Praxis empfängt uns eine Sprechstundenhilfe. Sie erkundigt sich, wie unsere Reise war. Dann bittet sie uns, noch einen Augenblick im Wartezimmer Platz zu nehmen. Die Räume wirken düster. An den Wänden Bücherregale, Schränke mit Medikamenten, Kinderzeichnungen. Wie beiläufig nehme ich es wahr.

Wie wird es werden?

Wie wird es werden, dieses Gespräch, an dessen Ende, im „besten Fall“, der Tod meiner Frau beschlossen wird?

Wir setzen uns ans Fenster. Moni tastet nach meiner Hand. Ich drehe mich zu ihr – du siehst doch überhaupt nicht krank aus, ruft eine Stimme in mir. Ich streichele ihre Finger. Sie scheint es nicht zu bemerken.

Der Arzt, ein kräftiger Mann mit Rauschehaar und Vollbart, das Klischee eines Schweizer Bergbauern, bittet uns ins Sprechzimmer. Er deutet auf ein paar Stühle, die um einen gläsernen Besprechungstisch stehen. Moni setzt sich, behutsam, langsam. Dann eröffnet sie ohne Umschweife das Gespräch.

„Führen Sie häufig Unterredungen wie diese?“

„Ab und zu.“ Der Arzt lehnt sich zurück.

„Das ist sicher nicht immer einfach.“

„Mhhh.“ Er reibt seinen Bart und sieht aus, als müsse er über ihren Satz nachdenken.

„Ich wünschte, es gäbe in Deutschland die Möglichkeit einer Sterbebegleitung.“

„Nun, sie ist auch in der Schweiz nicht ganz unumstritten.“ Er lehnt sich noch ein Stück weiter zurück, und seine breiten Schultern verdecken die Lehne seines Stuhls. „Als Dignitas 1998 gegründet wurde, hatte der Verein nicht einmal dreihundert Mitglieder. Sechs nahmen im ersten Jahr die Möglichkeit einer Freitodbegleitung wahr. Heute sind es über fünftausend Mitglieder, die Mehrheit der Eidgenossen befürwortet die Möglichkeit des assistierten Suizids, und neben Dignitas gibt es Exit und Ex International. Für uns ist die Entscheidung, wann und wie ein Mensch sein Leben beenden möchte, Teil des Selbstbestimmungsrechts. Eine Auffassung, die inzwischen übrigens auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt hat. Doch viele Schweizer stören sich daran, dass Ausländer kommen, um bei uns zu sterben. Sie sprechen von ‚Sterbetourismus‘. Vor zwei Jahren gab es zwei Volksabstimmungen, die die Mehrheit der Bürger jedoch ablehnte. Auch aus Politik und Verwaltung gab es Widerstand – immer wieder wurden Wohnungen, die Dignitas angemietet hatte, gekündigt, mir hat man schon zwei Mal die Approbation entzogen …“

„Tatsächlich?“

Er zwinkert. „Beide Male habe ich sie zurückbekommen.“ Er wirkt recht gelassen, als würde ihm Gegenwind nichts ausmachen.

Moni hört weiter zu. Sie stellt Fragen, hakt nach. Sie ist wach und flink, und beinahe muss ich lachen, weil es so offensichtlich ist: Der Arzt muss sich in diesem Gespräch vergewissern, dass meine Frau bei Verstand ist und die Entscheidung zu sterben im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten trifft. Sie beweist es ihm sehr deutlich… Im Vorfeld hat sie sich allerdings aufgeregt. Ich versuchte, sie zu beruhigen, und sagte, das diene der juristischen Absicherung.

„Wie sollte ich einen Bericht über mein Leben verfassen“, entgegnete sie, „tausend Formulare ausfüllen und den ganzen Papierkrieg bewältigen, wenn ich nicht bei Verstand wäre?“

Irgendwann beugt der Arzt sich vor. „Nun erzählen Sie mir bitte, warum Sie sich für eine Sterbebegleitung entschieden haben.“

Moni hält inne. Entschieden streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht und wiederholt, nüchtern und klar, was sie bereits in ihrem Bericht geschildert hat: Krankheitsgeschichte, Operationen, Therapien. Die jüngste Diagnose und die Prognose. Ihren Wunsch, nicht gelähmt, gefüttert, gewindelt und von Medikamenten betäubt dahinzudämmern und auf den Tag zu warten, an dem der Krebs ihrem Leben endlich ein Ende macht.

Der Arzt hört zu. Ich beobachte ihn, doch sein Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten. Als Moni endet, beugt er sich noch ein Stück vor. Er legt seine Hand auf ihre. Ich zucke kurz; so etwas habe ich bei einem Arztbesuch noch nicht erlebt.

„Und Sie sehen keine Alternative?“, fragt er.

„Nein“, sagt meine Frau.

Er sieht sie an, mit festem Blick.

Er schaut ihr in die Augen.

Er prüft sie.

„Nein“, sagt meine Frau noch einmal.

Ich schlucke. Obwohl ich all das schon mehrmals gehört habe, kommt es mir vor, als sähe ich einen Film.

Der Arzt lässt seine Hand noch einen Moment auf Monis liegen. Dann zieht er sie zurück.

„Wissen Sie“, sagt er und stützt sich gegen die hohe Lehne seines Stuhls, „es kommen immer wieder Menschen zu uns, die schwer krank sind und keine Zukunft für sich sehen. Doch immer wieder können wir ihnen Perspektiven aufzeigen. Möglichkeiten, die man bedenken muss, bevor man eine endgültige Entscheidung trifft.“

Keine Hoffnung auf Besserung

Moni holt Luft. Dann atmet sie langsam und hörbar wieder aus. „Ich verstehe, was Sie meinen“, sagt sie. „Natürlich könnte man meine Wirbelsäule in einer aufwendigen Operation stabilisieren. Anschließend könnte ich mich einer oder mehreren Chemotherapien unterziehen und weiteren Bestrahlungen. Aber wozu? Der Krebs ist weit fortgeschritten und zudem ins Rückenmark eingedrungen, ich werde in absehbarer Zeit mit oder ohne Operation teilweise oder vollständig gelähmt sein. Vielleicht führt auch der Eingriff selbst zu einer Lähmung, das Risiko besteht. Ich werde dann bewegungsunfähig im Bett liegen, mit riesigen Wunden an Rücken und Brust, während der Krebs weiter wuchert. Welche Folgen eine Chemotherapie hat, noch dazu nach einer großen Operation, die den Körper ohnehin geschwächt hat, muss ich Ihnen nicht erklären. Dabei kann man den Krebs nicht einmal stoppen. Man kann ihn höchstens bremsen. Irgendwann in ein paar Wochen oder Monaten wird er dann meine Atmung lähmen, und ich werde ersticken.“ Sie macht eine kurze Pause, beugt sich ein wenig vor und sieht ihn geradeheraus an. „Ist das Lebensqualität?“

Der Arzt reibt stumm seinen Bart.

„Meine Prognose erlaubt keine Hoffnung.“

Der Arzt nickt. Auch er sieht Moni geradeheraus an.

Wieder hält sie seinem Blick stand.

„Hätte ich Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, wüsste man auch, was mich erwartet, nicht wahr?“

„Ja.“

„Oder Parkinson.“

„Ja.“

„Oder Multiple Sklerose. Oder ALS.“

„Die Prognose ist in der Tat nicht die beste.“

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. (...)

„Es gibt nichts, was man noch probieren müsste“, sagt meine Frau. „Was immer man täte, es wäre reiner Aktionismus.“

Der Arzt räuspert sich.

„Man kann ja nicht einmal mehr den Verlauf bremsen! Der Orthopäde sagte, ich solle nicht damit rechnen, dass meine Wirbelsäule noch bis Ende des Jahres halte.“

Mein Herz pocht.

„Es ist nur eine Frage der Zeit.“

Der Arzt nickt und beugt sich vor. Er faltet die Hände vor sich auf dem Tisch. Breite, kräftige Hände. Helle Haare auf dem Handrücken. Der gelassene Ausdruck in seinem Gesicht ist verschwunden. Stattdessen Aufmerksamkeit und Konzentration. Er muss abwägen – zwischen Monis Selbstbestimmungsrecht und der Frage, ob sie ihre Situation richtig einschätzt und es wirklich keinen Ausweg gibt.

„Sie wissen, Frau Prause“, sagt er, „dass Sie Ihre Entscheidung jederzeit revidieren können?“

Moni schluckt. „Ja.“

„Sie können jederzeit aufstehen, sagen, Sie hätten es sich anders überlegt und zur Tür hinausmarschieren. Sie können nach Hause fahren und morgen eine Mail schreiben, dass Sie es sich anders überlegt haben. Sie können einen Termin für eine Sterbebegleitung vereinbaren und am Tag vorher absagen. Sie können anreisen und sich im Sterbehaus noch entscheiden, weiterzuleben. Sie haben jederzeit die Wahl.“

Moni schluckt wieder und sagt: „Ich habe keinen Grund, meine Entscheidung zu revidieren.“

Der Arzt schweigt.

Moni schluckt und wischt sich über die Wange.

Ich möchte schreien.

„Hat man Sie beeinflusst?“, fragt der Arzt.

„Wie bitte?“ Moni zieht die Nase hoch.

„Drängt Sie jemand, zu sterben?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein, es ist meine Entscheidung.“

Der Arzt schweigt.

„Das Einzige, was mich drängt, ist die Angst, dass meine Wirbelsäule bricht. Ich habe nicht mehr viel Zeit.“

Eine Zigarette.

Bitte, eine Zigarette!

„Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Prause. Ich muss ausschließen, dass man Sie beeinflusst oder drängt, zu sterben.“

Moni lacht, ein kurzes, wundes Lachen. „Der Krebs drängt mich. Meine zerbröselnde Wirbelsäule.“

Ich schnappe nach Luft.

Was ist das bloß für ein Film?

Wo steckt der Regisseur, dieser gottverdammte Idiot, der die Hauptrolle falsch besetzt hat und die Frau, die neben mir sitzt, diese quicklebendige Person, meine Moni, auf die Bühne schicken will – wo zum Teufel steckt er?

Der Arzt löst seine Hände und streicht über ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch liegt. „Wenn Sie weiterhin eine Sterbebegleitung durch Dignitas wünschen, Frau Prause, werden wir einen Termin für eine zweite Konsultation verabreden. Bleiben Sie auch dann bei Ihrem Entschluss, werde ich Ihnen ein Rezept über 15 Gramm Natrium-Pentobarbital ausstellen.“ Er faltet das Papier und steckt es in seine Brusttasche. „Den Termin für die Sterbebegleitung verabreden Sie selbst. Zwei Sterbehelfer von Dignitas werden Sie und Ihre Angehörigen an dem Tag begleiten.“

Moni nickt erleichtert.

Und sieht sich um. „Wo …?“

„Nicht hier.“ Der Arzt schüttelt den Kopf. „Dignitas unterhält ein Sterbehaus.“

„Wo?“

„In Pfäffikon, nicht weit von hier.“

„Was passiert, wenn ich dorthin komme?“

„Die Sterbebegleiter werden noch einmal mit Ihnen über Ihren Wunsch zu sterben sprechen. Man wird Sie darauf hinweisen, dass Sie Ihre Entscheidung jederzeit revidieren können.“

„Das wird nicht nötig sein.“

Zeit, Abschied zu nehmen

„Dann sind letzte Dokumente zu unterzeichnen: Vollmachten für die Beurkundung des Sterbefalls, die Einäscherung und die Überführung der Urne, außerdem eine abschließende Bezeugung, dass Sie freiwillig aus dem Leben gehen. Man wird Ihnen das Sterbezimmer zeigen. Sie haben Zeit, Abschied zu nehmen. Es gibt keinerlei Druck, Sie allein bestimmen, wann für Sie der Moment gekommen ist, zu gehen. Wenn es so weit ist, bekommen Sie ein Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen, denn das Natrium-Pentobarbital ist sehr bitter, würde man es auf nüchternen Magen nehmen, würde man sich übergeben. Es dauert etwa eine halbe Stunde, bis es wirkt. Dann löst einer der Sterbehelfer das Barbiturat in Wasser auf. Es ist wichtig, dass Sie in der Lage sind, es selbst zu sich zu nehmen, denn Dignitas ermöglicht seinen Mitgliedern den Freitod auf der Basis des juristisch legalen assistierten Suizids. Kein Sterbehelfer darf einem Sterbewilligen das tödliche Medikament direkt verabreichen, das wäre aktive Sterbehilfe und ist auch in der Schweiz verboten.“

Moni nickt.

„Wenige Minuten, nachdem Sie das Mittel genommen haben, werden Sie einschlafen. Später lähmt das Natrium-Pentobarbital Ihr Atemzentrum, wodurch der Tod eintritt.“

„Spüre ich …?“

„Nein, das spüren Sie nicht. Der Vorgang ist schmerzlos, denn Sie befinden sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Koma.“

„Und … meine Familie?“

„Sehr viele Angehörigen berichten, dass sie das Entschlafen ihrer Verwandten mittels Natrium-Pentobarbital als friedlich und würdevoll empfunden haben.“

Ich will hier raus.

Ich schließe die Augen.

Ich reiße mich zusammen.

„Haben Sie weitere Fragen?“

„Eine letzte.“ Ich öffne die Augen und sehe, wie Moni sich über die Stirn wischt. „Kann ich mich darauf verlassen, dass das Medikament wirkt?“

„Natrium-Pentobarbital ist ein Schlaf- und Narkosemittel und in der verschriebenen Dosis letal.“

„Immer?“

„Immer.“

Sie atmet aus.

Sie sieht erleichtert aus.

„Haben Sie noch eine Frage?“

Moni schüttelt den Kopf. „Nein, ich denke, ich weiß alles, was ich wissen muss.“

Der Arzt sieht auf die Uhr.

Er steht auf.

Ich stehe auf.

Moni steht auf.

Wir geben uns die Hand. Wir verabschieden uns. Wir wissen, dass wir uns bald wiedersehen werden.

Als Moni und ich auf die Straße treten, fühle ich mich wie betäubt. Noch immer hängen schwere Wolken am Himmel. Fußgänger eilen über den Gehweg. Autofahrer haben ihre Scheinwerfer eingeschaltet. Ein kleines Mädchen reißt sich von der Hand seiner Mutter los und hüpft durch eine große Pfütze. Ein Hund bellt, als sein Frauchen aus einer Apotheke kommt. Mechanisch ziehe ich die Schlüssel aus meiner Jackentasche. Den eigenen Tod zu diskutieren, seine Modalitäten und Umstände zu erörtern, hat etwas zutiefst Verstörendes. Etwas vollkommen Irreales.

Alles könnte anders sein

Auf dem Weg zur Autobahn kommt uns ein Strom von Autos entgegen. Menschen, die nach Hause fahren, ins Wochenende. Wie leicht, denke ich, könnte alles ganz anders sein – Moni und ich könnten auf dem Weg nach Zürich sein, ich hätte uns ein kleines Hotel gebucht, vielleicht in der Nähe des Sees, abends würden wir essen gehen, später die Promenade entlang spazieren, am nächsten Tag durch die Gassen der Innenstadt schlendern, vielleicht ein Kleid für sie kaufen, ein paar Schuhe, wir könnten eine Ausstellung ansehen, im Kunsthaus, im Museum Rietberg oder im Museum für Gestaltung und anschließend auf einer der Caféterrassen Schümli trinken oder Cappuccino. (...) Stattdessen folge ich den Wegweisern und weiß, dass genau das nie mehr passieren wird.(...)

„Wer sagt eigentlich, in der Schweiz würde einem leichtfertig beim Sterben geholfen?“, fragt Moni, als ich den Blinker setze, um einen rumänischen Laster zu überholen. „Warum heißt es in der öffentlichen Diskussion, der Wunsch nach Sterbehilfe sei das Resultat einer Spaßgesellschaft, die nicht mit Leid umgehen könne? Warum heißt es, Menschen seien verführbar, deshalb müsse man sie quasi vor sich selbst schützen? Warum wird prophezeit, schon das geringste Abrücken von einem Verbot werde einen Dammbruch auslösen?“

„Weil die, die das sagen, nicht wissen, worüber sie reden.“

„Nee“, entfährt es Moni. „Nee, das wissen sie wohl wirklich nicht.“ (...)

Moni schüttelt den Kopf. „Das Gebot, nicht zu töten, ist eine Grundvoraussetzung für jedes zivilisierte Zusammenleben, und man darf es nicht leichtfertig aufheben. Doch was ich heute erlebt habe, hat mit Leichtfertigkeit nichts zu tun.“

Dann schaut sie wieder aus dem Fenster.

Ich atme tief durch.

An der nächsten Raststätte parke ich vor dem Restaurant, neben dem Behindertenparkplatz. Moni sieht mich an. Ich zucke mit den Schultern. Sie prustet los. Abrupt beuge ich mich vor, umarme sie und drücke meine Nase in ihr duftendes Haar.

Als wir aussteigen, rutscht ihr Sitzkissen vom Beifahrersitz. Sie bückt sich.

Mir stockt der Atem.

Sie stößt einen Schrei aus.

„Bist du irre!?“, brülle ich.

Vorsichtig richtet sie sich auf. „Au …“ Sie ist kreidebleich.

Ich renne ums Auto. „Bist du irre, dich zu bücken?“

Moni starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sie ist mindestens so erschrocken wie ich. Ich hebe das Kissen auf und werfe es ins Auto.

„Es war …“

Mein Puls rast.

„Es war ganz automatisch …“

Ich schließe sie in die Arme.

„Glück gehabt“, murmele ich in ihr Haar. „Du hast verdammt noch mal riesiges Glück gehabt.“

Volker Prause, Sabine Eichhorst: Der Himmel so weit. Vom selbstbestimmten Sterben der Monika Prause. Ihre Familie erzählt. Ludwig Verlag, 19,99 Euro