Wie gemeinsames Musizieren beeinträchtigten Menschen hilft
Was bedeutet Musik für Menschen mit Behinderung? Gehen sie anders an Musik heran? Darüber sprachen wir mit Prof. Dr. Karin Schumacher vom Zentralinstitut für Weiterbildung der Universität der Künste (UdK) Berlin. Sie arbeitet seit 1974 als Musiktherapeutin und seit 30 Jahren speziell mit autistischen Kindern und hat den Studiengang Musiktherapie an der UdK ins Leben gerufen.
Berliner Morgenpost:
Frau Prof. Schumacher, unser Besuch im Pastor Braune Haus zeigt, mit wie viel Begeisterung die Kids dort kreativ werden und wie viel Erfolg sie gerade mit der Musik haben. Bewirkt Musik bei Menschen mit einer Beeinträchtigung etwas anderes als bei gesunden Menschen?
Karin Schumacher:
So wie Musik auf jeden Menschen anders wirkt, ist auch bei behinderten Menschen die Empfänglichkeit ganz unterschiedlich. Es hängt ja auch stark von der Situation ab, wie wir Musik empfinden. Doch während gesunde Menschen zahlreiche Möglichkeiten haben sich mitzuteilen, ist das bei behinderten und psychisch kranken Menschen anders. Für sie ist Musik nicht selten die einzige Möglichkeit zu kommunizieren.
Haben Sie da ein Beispiel?
Musik ist ein nicht-sprachliches Medium und damit sehr gut für Menschen geeignet, die keine Sprache haben, isoliert sind oder unter seelischen Schwierigkeiten leiden, etwa Menschen mit autistischen Störungen oder Menschen, die im Hospiz leben. In der Musiktherapie versuchen wir gezielt, über die Musik eine Verbindung zu diesen Menschen aufzubauen. Nehmen wir ein autistisches Kind. Es kommt nicht sprechend in den Raum und bewegt sich darin. Ich versuche mit einem Instrument, seinen Gang und seine Stimmung hörbar zu machen. So sieht das Kind, was es fühlt und tut, und wird sich seiner selbst bewusst. Die Musik hat dabei etwas so Bezwingendes, dass sich das Kind erfahrungsgemäß kaum entziehen kann und eine Kontaktreaktion zeigt.
Und dann?
Über die Musik wird ein Kontakt hergestellt, das ist schon ein großer Erfolg. Ein weiterer Schritt in der aktiven Musiktherapie ist zu lernen, sich selbst zu äußern. Das geht am besten mit einfachen Instrumenten, für die man keine Technik braucht, aber auch mit einem Klavier. Und schließlich kann es auch zum Zusammenspiel kommen. Natürlich können autistische Menschen durch eine Musiktherapie nicht geheilt werden. Aber man kann Symptome lindern. So haben wir beobachtet, dass durch das gemeinsame musikalische Spiel die Autoaggression abnimmt. Das ist für die Erkrankten wie für ihr Umfeld sehr wichtig.
Zeigen Menschen mit Beeinträchtigungen manchmal nicht sogar besonderes Talent? Wir hatten den Eindruck, dass die Kids vom Pastor Braune Haus ihre Texte überdurchschnittlich schnell gelernt haben und vor ihrem Auftritt wenig Lampenfieber hatten...
Das darf man nicht überbewerten. Es gibt Menschen mit Autismus, die ganze Telefonbücher auswendig lernen und reproduzieren können. Das heißt aber nicht, dass sie dieses Wissen z.B. in einem Beruf einsetzen können. Bei solchen Inselbegabungen muss man vorsichtig sein. Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung ist es zum Beispiel so, dass Gereimtes grundsätzlich leichter zu lernen ist, vor allem, wenn es mit Bewegungen kombiniert wird. Da werden einfach alle Sinne angesprochen. Und was die geringe Aufregung angeht, könnte das mit fehlendem Schamgefühl zusammenhängen. Ein Kind mit Down-Syndrom kennt nicht das Gefühl, sich zu blamieren. Auf uns wirkt das dann, als hätte es keine Angst.
Beim Eurovision Song Contest hat Finnland mit der Punkrock-Band PKN eine Band aus drei Musikern mit Down-Syndrom und einem Menschen mit Autismus ins Rennen geschickt. Zwar kam PKN nicht ins Finale, hat aber für Gesprächsstoff gesorgt. Ein Vorzeigemodell?
Auf jeden Fall. Die nordischen Staaten haben eine lange Tradition mit Bandarbeit und beeinträchtigten Menschen. Dort arbeiten die Musiktherapeuten nicht nur im klinischen Zusammenhang, sondern direkt vor Ort, zur Reintegration in die Gesellschaft. Das ist eine tolle Sache, denn das gemeinsame Musizieren befreit die Menschen aus ihrer Isolation und dem seelischen Leid, das durch das Alleinsein entsteht.
Gibt es so etwas auch in Deutschland?
Es gibt einige Bands oder integrative Theaterprojekte wie das Theater Ramba Zamba in der Kulturbrauerei. Voraussetzung für eine solche Arbeit ist natürlich, dass sich die Mitglieder selbst wahrnehmen und gemeinsam agieren können, wie das bei Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung oder mit Down-Syndrom der Fall ist. Nicht alle Menschen mit Beeinträchtigungen können sich inkludieren und eine Gruppe ertragen.
Was gibt es für Alternativen?
Eine aktive Einzelförderung, wie ich sie oben beschrieben habe, oder auch eine rezeptive Musiktherapie, bei der man gemeinsam Musik hört und darüber spricht. Leider kommen hierzulande noch nicht so viele Menschen in den Genuss einer Musiktherapie. Zwar ist die Ausbildung zum Musiktherapeuten staatlich anerkannt, aber die Krankenkassen übernehmen nicht die Kosten.
Was würden Sie sich wünschen?
Dass Musiktherapie wie Logopädie oder Ergotherapie wegen ihrer vor allem seelischen Einflussnahme als psychotherapeutisches Verfahren anerkannt würde. Und, ganz wichtig, dass die Förderung von Menschen mit schweren Kontaktstörungen auch nach dem 18. Lebensjahr weitergeführt wird. Bei Menschen mit diesen Beeinträchtigungen ist das wie mit Zuckerkranken: Sie brauchen eine lebenslange Stimulation. Den kommunikativen Muskel darf man nicht untrainiert lassen, sonst verkümmert er und alte Krankheitssymptome tauchen wieder auf.