Potsdam - Zum ersten Mal in der Brandenburger Justizgeschichte müssen sich zwei Ärzte vor dem Landgericht in einem Verfahren für ihre Prognose verantworten, die die Ermordung von zwei alten Damen aus Berlin zur Folge gehabt haben soll. Die beiden Angeklagten sind Fachärzte für Psychiatrie aus der Landesklinik in Brandenburg/Havel.: Tilo L. (63 Jahre) und Jürgen H. (52 Jahre). Der Tatvorwurf: Fahrlässige Tötung. Sie hätten dem inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilten Doppelmörder Raymond Schwanke (39 Jahre) trotz drei vorheriger Fluchtversuche Lockerung in der Klinikunterbringung gewährt, obwohl für sie die Gefährlichkeit des notorischen Sexualstraftäters und Gewaltverbrechers erkennbar gewesen sei. Schwanke war nach 10-jähriger Gefängnishaft im Juli 1997 in die psychiatrische Landesklinik überstellt worden.
Dort missbrauchte er das Entgegenkommen der Ärzte, die offenbar gehofft hatten, ihn damit für therapeutische Schritte zu gewinnen. Im Zuge seiner letzten Flucht, von Oktober 1998 bis Juni 1999, brachte er zwei 90-jährige Frauen aus Berlin um, vergewaltigte sechs ältere Frauen und beging 70 Raubüberfälle. Oberstaatsanwalt Wolf-Rüdiger Ludwig: «Er hätte keine Lockerungen bekommen dürfen». Dies umso mehr, als er drei vorherige Erleichterungen bereits zur Flucht missbraucht hatte. Die beiden Morde seien «vermeidbar» gewesen, so der Oberstaatsanwalt.
Die Angeklagten räumten vor Gericht ein, dass auch sie Schwanke für gefährlich hielten. Allerdings sei für sie nicht vorhersehbar gewesen, zu welcher Gewaltorgie dieser kleine, unscheinbare Mann mit Schnauzbart imstande sein würde. «Unsere prognostische Beurteilung hat sich als falsch herausgestellt», räumte Oberarzt Jürgen H. ein. Die Kernfrage lautet: Hätten die Unterbringungsmaßnahmen gelockert werden dürfen bei einem Straftäter, der fast zwei Drittel seines Lebens bis dahin schon im Gefängnis verbracht hatte, angesichts einer Verbrechenskarriere, die sich von sexuellen Straftaten über Körperverletzungen bis hin zu Raubüberfällen erstreckte? Der Neurologe und Psychiater Dr. Alexander Böhle, der das Verhalten der angeklagten Ärzte unter fachlichen Aspekten beurteilen muss, sagt dazu: «Es gibt die Tendenz, dass die Kollegen in Brandenburg dazu neigen, Lockerungen mit Therapie zu verwechseln». Im Vordergrund stehe aber immer die Therapie. Die Lockerung könne nicht dazu dienen, herauszufinden, ob der Patient wieder Verbrechen begehe oder gar Belohnung für sein Versprechen sein, dass er in Zukunft an der Therapie mitwirken wolle. Genau dies hatte der Angeklagte Arzt H. aber als Grund für die Lockerung angegeben: «Schwanke ist Ausgang gewährt worden, weil er versprochen hatte, an den Therapien mitzuwirken», sagte er.
Schwanke selbst gibt als Zeuge vor Gericht zu Protokoll: «Dr. H. sagte zu mir, ich weiß genau, dass Sie wieder flüchten werden». Im Juli 1997, nach zwei Wochen in der geschlossenen Station, bekam Schwanke erstmals begleiteten Ausgang. Zwei Wochen danach dann sogar ohne Bewachung, inzwischen auf einer offenen Station. Im Februar 1998 flüchtete er, um «vorsätzlich», wie er sagte, Straftaten in Berlin zu begehen, um dort in die Vollzugsanstalt Tegel zu kommen. Dort versprach sich Schwanke eine bessere Therapie. Doch Tat und Strafmaß reichten «nur» für eine Unterbringung in Moabit. Nach sieben Monaten Haft kam er zurück in die Landesklinik in Brandenburg.