Die Unruhen von Ferguson im US-Staat Missouri beschäftigten in dieser Woche die Welt. Ferguson ist weit weg vom Kottbusser Tor. Trotzdem pflegt man auch in Kreuzberg das aufrührerische Potenzial. „Revolution ist die einzige Lösung“, steht in dicker, schwarzer Schrift an einer Hauswand. Und die junge Frau, die in der Adalbertstraße gerade aus der Haustür tritt, hat die Revolution sozusagen an der Leine. Ihr kleiner, zitternder Hund trägt einen roten Mantel, auf dem oben Che Guevaras Kopf prangt.
Doch es gibt hier auch eine Spur, die irgendwie nach Ferguson führt. Zu dem Thema Rassismus, das auch einiges mit Deutschland zu tun hat. Sagt zumindest Jamie Schearer. In einem Hinterhof in der Oranienstraße, einer ehemaligen Fabrik mit großen Lastenfahrstühlen, öffnet sie im zweiten Stock die Tür.
Jamie Schearer ist schwarz. Bei Fragen nach ihrer Herkunft gerät sie manchmal in eine Art aufgezwungenen Erklärungsnotstand. „Wenn ich sage, dass ich aus Berlin komme, heißt es erst einmal: ,Nein, jetzt wirklich!’“ Dann wollen die Leute wissen, wo ihre Eltern herkommen. Damit würde einem ja schon abgesprochen, dass er hier verwurzelt oder beheimatet ist, sagt sie.
„Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Berlin, das ist meine Erfahrungswelt. Und eigentlich fühlt man sich doch normal in seinem Haus.“ Aber es habe immer wieder Momente gegeben, wo ihr klar gemacht wurde, dass andere sie für anders halten. „Aufgrund meiner äußeren Merkmale – meiner Hautfarbe und meiner Haare wurde ich als schwarz wahrgenommen. Das muss nicht immer negativ sein, gehört dann aber in den Kontext des Alltagsrassismus.“
Viele Fälle ungleicher Behandlung
Wie, wenn man ihr zum Beispiel sagt: „Du kannst supertoll tanzen und singen, weil du schwarz bist.“
„Stört Sie das?“
„Wenn man es an das Schwarzsein knüpft, natürlich! Weil mir eine Leistung abgesprochen wird. Es wird angebunden an Merkmale, für die ich eigentlich nichts kann.“
Die 29-Jährige hat in Deutschland viele Fälle von Ungleichbehandlung ausgemacht. Schearer gehört zum Vorstand der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“. Sie hat die Twitter-Kampagne „Schau hin“ mit ins Leben gerufen, bei der Menschen von rassistischen Vorfällen berichten. Ihr Geld verdient sie mit Vorträgen und Artikeln. Es ist nicht genug, sie sucht nach Sponsoren. Wenn sie von ihrer Arbeit und ihren Zielen spricht, nimmt sie Wörter wie Bewusstseinswandel („brauchen wir“), Alltagsrassismus („irgendwo passiert immer was“) oder politische Selbstpositionierung („wird von schwarzen Menschen gewählt, die in unserem System Ungleichheit erfahren haben, basierend auf ihren äußerlichen Merkmalen“). Klingt ein bisschen nach Schlagwörter-Deutsch. Vielleicht erst einmal einen Tee? Okay.
Schearer will Rassismus sichtbar machen. Wer betroffen ist, soll ein Ohr bekommen, soll Möglichkeiten haben, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Der tragische Tod eines schwarzen Teenagers in Ferguson, verursacht durch die Schüsse eines weißen Polizisten, die wütenden Proteste nach dessen Freispruch – das zeigt einfach, sagt Schearer, dass das System für schwarze Menschen nicht auf die gleiche Art und Weise funktioniere. Und kann so etwas wie Ferguson auch in Deutschland passieren? „Die Strukturen sind hier anders, aber der Fall Oury Jalloh zeigt, dass auch in Deutschland eine Ungleichbehandlung stattfindet.“ Jalloh kam vor fast zehn Jahren bei einem Brand in einer Gefängniszelle in Dessau ums Leben. Bis heute sind die genauen Umstände nicht geklärt. Offen bleibt beispielsweise, wie das Feuer ausbrach und warum die Polizei nichts davon bemerkte. Jalloh war verhaftet worden, weil er Frauen belästigt haben sollte. In der Zelle war er an Händen und Füßen gefesselt worden. Vor knapp drei Monaten erst bestätigte der Bundesgerichtshof ein Urteil des Landgerichts Magdeburg, wonach einer der Beamten zu einer Geldstrafe von insgesamt 10.800 Euro verurteilt worden war. Letztlich bleibt aber vieles im Dunklen, auch die Frage, ob es Mord war. Noch immer bemühen sich Staatsanwaltschaft, eine Initiative und Einzelpersonen um Aufklärung.
Schearer selbst ist mit Gewalt bisher kaum in Berührung gekommen. Einmal war sie nachts in Köpenick unterwegs, da bauten sich im Bus vor ihr ein paar glatzköpfige alkoholisierte Jugendliche bedrohlich auf. „Glücklicherweise hatten sie ihre Freundinnen dabei. Diese meinten dann: ,Komm, lass die.’“ Sie meidet aber bestimmte Ecken in Berlin. Marzahn und Hellersdorf sind für sie gefährliche Orte. Früher habe sie sich auch nicht getraut, mit der Ringbahn einmal ganz um die Stadt zu fahren.
Es ist schwierig, einen Menschen wie Jamie Schearer zu beschreiben, bei dem das Äußere sozusagen Programm ist. Man darf aber sicher sagen, dass sie eine sehr schöne, junge Frau ist. Sie wirkt selbstbewusst und ist geradeheraus. Mit ihrer hellen Anzugsjacke könnte sie auch statt hier in Kreuzberg in einer Anwaltskanzelei in Wilmersdorf arbeiten. Dort und in Zehlendorf ist sie aufgewachsen, zur Schule gegangen, dort hat sie auch zum ersten Mal gemerkt, dass sie anders gesehen wird als die übrigen Kinder.
Ihre Mutter hat ihr später erzählt, dass sie sich im Kindergarten beschwert hatte, weil sie von den anderen gehänselt wurde. „Ich soll damals gesagt haben, dass ich lieber weiß wäre.“
Einmal, schon ein bisschen älter, war sie mit ihrer Mutter und Tante unterwegs. „An einer Ampel sagte eine Frau plötzlich zu uns, wir sollen uns hinscheren, wo wir herkommen. Sie wetterte wahnsinnig, nannte uns: Ihr scheiß Reisfresser.“ Was zeigt, dass rassistische Äußerungen nicht immer mit geografischen Kenntnissen einher gehen.
Die Geschichte von Jamie Schearer hat mit drei Ländern zu tun, mit Deutschland, den USA und Ghana. Die Mutter stammt aus Ghana. Jamies späteren Vater lernte sie über Freunde kennen, er war beim amerikanischen Militär in Berlin stationiert.
„Ist Ihr Vater auch Schwarzer?“
Sie zögert. „Mein Vater ist weiß, aber welche Relevanz hat das fürs Schwarzsein? Es gibt durchaus Unterschiede, die in der Gesellschaft gemacht werden: Je heller die Hautfarbe ist, desto näher ist man an dem Ideal dran. Aber ich könnte tatsächlich zwei schwarze Elternteile haben, und trotzdem so aussehen wie ich aussehe. Was bedeutet das?“
„Für Ihren Werdegang ist es vielleicht interessant, dass Sie einen weißen Vater und eine schwarze Mutter haben, und nicht beide Elternteile schwarz sind.“
„Es darf nicht interessant sein für die Geschichte. Ich bin primär mit meiner Mutter aufgewachsen, das heißt, dass ich viel durch ihre Erfahrungswelt miterlebt habe, als schwarze Frau hier in Deutschland.“
Ihre Eltern trennten sich, als sie vier Jahre alt war. Sie war das einzige Kind.
Als sie die Grundschule besuchte, war sie auch die einzige Schwarze in der Klasse. Damals hörte sie zum ersten Mal das Wort, das sie heute nicht mehr ausspricht. Sie nennt es das N-Wort. „In diesem Wort steckt die ganze Negativstereotype über schwarze Menschen. Und auch die Historie, die daraus erwachsen ist. Nicht nur Versklavung, sondern auch Kolonialismus. Es geht um Entmenschlichung. Deshalb ist es ein Schimpfwort.“
Eine Vertretungslehrerin in der Vierten Klasse sah das anders. Es sei ein ganz gebräuchliches Wort, erklärte sie. Schearers Mitschüler protestierten. Das Wort dürfe man nicht benutzen.
Ein anderes Mal rief ihr ein Kind aus dem Fenster das Wort auf dem Schulhof hinterher.
Das Wort kam und kommt auch in Kinderbüchern vor. In Otfried Preußlers Klassiker „Die kleine Hexe“ wurde es gestrichen. Schearer moniert aber, dass es immer noch selbst in Schulbücher auftaucht, in einem bayerischen entdeckte sie das Wort Negersklaven.
Überhaupt, mit der deutschen Sprache hat sie lange gehadert. „Ich habe erst sehr spät angefangen zu lesen.“ Leute, die sie aus ihrer Grundschulzeit kennen, würden niemals denken, dass sie heute einen Hochschulabschluss hat und über eine Doktorarbeit nachdenkt. Möglicherweise wurde ihre Leistung in der Oberschule in Zehlendorf besser, weil sie nicht mehr die einzige Schwarze in der Klasse war. Aber auch an „zwei ganz tollen Lehrern, die mich gepusht und motiviert haben. Dadurch konnte ich an mich glauben und über mich hinauswachsen.“ Ihr Abitur schafft sie schließlich mit einem Notendurchschnitt von 2,3.
Sie studiert Politikwissenschaft, Nordamerikanistik und Ethnologie. Die Fächer wirken wie ein Konglomerat ihrer verschiedenen familiären Äste. Möglicherweise war es eine Suche nach ihrer eigenen Identität.
Auch mit Äußerlichkeiten hat sie sich lange schwer getan. Etwa den Haaren. „Ich habe sie ganz lange geglättet, dann habe ich sie vor sieben Jahren abgeschnitten. Seitdem lasse ich sie natürlich wachsen.“ Sie habe auch einmal Afro getragen, „da wurde mir ständig einfach reingegriffen“. Das kannte sie schon aus ihrer Kindheit, Mitschülerinnen und Lehrerinnen hätten das einfach gemacht. So, als ob sie nicht glauben wollten, dass es sich bei einer Schwarzen um ihre natürlichen Haare handelte. Übergriffig nennt Schearer das.
Schönheitsideale seien für schwarze Frauen extrem schwierig, sagt sie. In Magazinen würden sie hauptsächlich mit sehr glattem Haar, sehr schlank und sehr hell abgebildet. Viele schwarze Frauen würden nach einem weißen Schönheitsideal aussehen. „Eine Ausnahme ist vielleicht Beyoncé, weil sie kurvig ist, aber ihre Haare sind dafür mehr oder weniger blond.“
Vielleicht ist es auch das, was Jamie Schearer fehlte und noch immer fehlt. Die Möglichkeit, sich zu orientieren, überhaupt Vorbilder zu haben.
Die amerikanische Staatsgehörigkeit duldet keine zweite, deshalb hat sie auch nicht die deutsche. Trotzdem ist sie hier verwurzelt. Sie mag die Sprache, „weil sie viele Feinheiten zulässt und erlaubt, sich präzise auszudrücken.“ Typisch deutsch? „Ich bin ziemlich pünktlich und sehr straff in meinem Zeitplan.“ Heimat? „Berlin. Hier bin ich aufgewachsen. Das ist der Ort, wo ich zurückgehe, wenn irgendwas schief läuft.“