Die Geisterjäger von Berlin

Sieht hier jemand Gespenster? (II)

| Lesedauer: 12 Minuten
Felix Müller

Gespenstergeschichten sind nicht nur obskurer Gruselstoff. Sie erzählen vom Unglück unserer Vorfahren. Sie überliefern, was wir oft lieber verdrängen würden. Die Schriftstellerin Sarah Khan hat sich auf die Spur der Geister in der Hauptstadt begeben. Ein Gespräch

Kaum jemand kennt die Geistergeschichten dieser Stadt so gut wie Sarah Khan. Für ihr Buch "Die Gespenster von Berlin. Unheimliche Geschichten" (Suhrkamp) hat die Schriftstellerin über Jahre hinweg die spannendsten von ihnen zusammengetragen. Sie erzählt von Mietshäusern in Prenzlauer Berg, in denen niemand mehr länger wohnen möchte, weil eine alte Klavierlehrerin dort ihr Unwesen treibt. Sie scheut auch vor dem Selbstversuch nicht zurück: Sie zieht mit einer Freundin ins Künstlerhaus Bethanien, um den unzähligen Gespenstergeschichten nachzuspüren, die von diesem Ort existieren. In der Nacht begegnet sie dann tatsächlich Gespenstern, wenn auch auf eine ganz andere Weise, als sie und ihre Freundin vermutet hätten. Und sie spürt ein uraltes Haus am Tempelhofer Ufer auf, in dem zur Zeit des Nationalsozialismus' Zwangsarbeiter ihr Dasein fristen mussten und das nun zu einem Zentrum höchst seltsamer Ereignisse geworden ist. Ihre Recherchen reichen auch in die Zeit der deutschen Teilung, als Geister beim Gläserrücken am Tisch das Mithören der Stasi verrieten.

Wer Sarah Khans Buch liest, dem wird auf faszinierende Weise klar, worin die eigentliche Funktion solcher Überlieferung liegt: Nicht im wohlig-sicheren Gruselgefühl des Zuhörers, sondern im Umgang mit dem Unglück unserer Ahnen. Ob es nun zerplatzende Vasen in einem ehemaligen Krankenhaus sind oder merkwürdige Erscheinungen in einem Gebäude, in dem einmal Zwangsarbeiter festgehalten wurden: In allen Geschichten erhält sich ein Bewusstsein dafür, was Väter und Mütter, was Großmütter und Großväter, was Urgroßeltern erleiden mussten - und an Leid war die Berliner Geschichte gewiss nicht arm. Das Verdrängte kehrt in beängstigender Gestalt zurück, als leuchtender Schemen in der Nacht, als merkwürdiges Geräusch oder als Riss in der Decke, der langsam größer wird. Als Gespenstergeschichte.

Berliner Illustrirte Zeitung:

Wie kamen Sie auf die Idee, über die Gespenster von Berlin zu schreiben?

Sarah Khan:

Als ich 2001 von Hamburg nach Berlin zog, erlebte ich den ersten Spuk meines Lebens. In meiner neuen WG am Zionskirchplatz spukte es, das war bei den Hausbewohnern schon längst bekannt, nur mir sagte das beim Einzug keiner. Irgendwann meinte ich: Hier spukt es doch. Eine Mitbewohnerin antwortete: Ach, fällt dir das auch auf? In meinem Zimmer war eine alte, sehr unglückliche Frau gestorben. Die Geschichte dieser Frau, und den Grund für ihren Spuk habe ich viel später für das Buch recherchiert. Es gab ein handfestes Motiv dafür, furchtbar traurig. Aber meine Idee, ein ganzes Buch über zeitgenössische Berliner Gespenstergeschichten zu machen, entstand, als mir vor einigen Jahren auffiel, dass bei Dinnerpartys immer wieder von Geistern die Rede war. Mein Mann ist Kunstkritiker, und wir treffen oft Künstler, die aus aller Welt nach Berlin ziehen und hier alte Gebäude renovieren. Die erzählten von seltsamen Vorkommnissen oder waren auf der Suche nach Schamanen, die ihnen die Bude ausräuchern. Ich merkte aber auch, dass selten ist, dass Leute vollständige Geschichten erzählen, sie berichten eher Splitter. Um eine Gespenstergeschichten zu bekommen, braucht es einen Erzähler, der die Splitter sammelt und richtig zusammensetzt.

Wo kann man in Berlin am ehesten Gespenster treffen?

Fragen Sie rum! Irgendjemand kennt immer jemanden, der was Seltsames erlebt hat. Das war so herrlich an dieser Arbeit, ich konnte mich darauf verlassen, dass die Stadt voller Hinweise auf Spuk ist, ich musste nur rumfragen. Auf Spielplätzen, bei Freunden und zufälligen Bekanntschaften. Ich habe viel gefragt, obwohl ich manchmal vorsichtig vorgehen musste, um nicht als esoterische Verrückte dazustehen. Mich hat ja nicht interessiert, Spuk wissenschaftlich zu beweisen, sondern den Erzählstoff aufzuspüren und ihn in Literatur zu überführen. Mittlerweile schicken mir Leute über meine Website Hinweise zu Gespenstern. Aber ob ich noch mal ein zweites Buch dazu mache, weiß ich noch nicht. Denn Berlin ändert sich rasant. Vielleicht gibt es in einigen Jahren keine Hinweise mehr und keine Orte für Gespenster. Im 19. Jahrhundert war London die Stadt der Gespenster, nun ist es Berlin, aber auch das wird sicher irgendwann vorbei sein.

Welche ihrer vielen Gespenstergeschichten hat sie am stärksten gepackt?

Es klingt nicht originell, aber jede Story liegt mir am Herzen, denn jede ist eigen und anders. Die von den Ost-Berliner Mädchen, die in den 80ern als Grufties auf Friedhöfe gingen und sich etwas ganz Unheimliches mit nach Hause brachten, hat mir bei allem Grusel wahnsinnig Spaß gemacht. Die Geschichte "Gläserrücken mit der Stasi" ist auch wundervoll, ich wurde schon von Wissenschaftlern gefragt, ob ich noch mehr Hinweise auf die Verwicklung der Stasi in spiritistische Zirkel hätte. Und ich liebe auch die Geschichte der älteren Dame und dem siebten Buch Mose, denn diese Frau hat eine magische Weltsicht, sie hat genaue Vorstellungen von Leben und Tod, gut und böse, Zauber und Gegenzauber, und sie war eine geborene Erzählerin mit sehr viel Menschenkenntnis. Es war ein großes Glück, sie zu finden.

Welche Arten von Gespenstern gibt es denn in der Hauptstadt?

Es gibt Poltergeister, aber auch nervige esoterische Dienstleister, die viel Geld mit ihrer Form der Hausreinigung verdienen. Es gibt Haustiere mit seherischen Fähigkeiten, aber auch Hausmeister, die zum Schrecken der Mieter ihr echtes, physisches Unwesen treiben können. Es gibt eingeflogene Feng-Shui-Meister, die unglaubliches Wissen über Berlin hervorzaubern. Aber der Großteil besteht wohl aus traurigen, schrecklichen und vollkommen unglücklichen Geflechten, die in Träumen, unter dem Wandputz und in Treppenhaus-Erzählungen zu finden sind. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Stadt voller Toter ist, die keinen Grabstein besitzen, weil sie in KZs umgebracht wurden. Einige von ihnen haben nun einen Stolperstein oder eine Gedenktafel. Viele Wohnhäuser haben damit eine Teilfunktion von Gräbern übernommen. Das ist eine neue Entwicklung, die vor dem Hintergrund des Holocaust zu verstehen ist.

Was hat es mit dem Künstlerhaus Bethanien am Kreuzberger Mariannenplatz auf sich?

Wenn es irgendwo in Berlin ganz sicher spukt, dann in Bethanien! Das behaupte nicht nur ich, das hat schon Theodor Fontane erfahren. Ich fand in seiner Autobiografie einige Stellen, wo er seine Erlebnisse als junger Apotheker in Bethanien beschrieb. Er sollte den Diakonissinnen beibringen, wie sie Salben und Medikamente anrührten. Damals war dieser Krankenhaus-Schreckensbau gerade ganz neu, aber bereits ein vollkommen dysfunktionales Gebäude, das durch seine terroristische Architektur sicher viele Menschenleben auf dem Gewissen hat. Der Architekt war über den Plänen gestorben, der König persönlich übernahm die Leitung und vergaß in seinen amateurhaften Zeichnungen, die eher an eine Ritterburg als ein Krankenhaus erinnerten, Wasserleitungen zu legen, und die Aborte mit Fenstern zu versehen und sie weit genug von den Küchen zu trennen. Die Hygiene dort war katastrophal. Die Berliner Ärzte überweisen deshalb auch nicht gerne nach Bethanien. Auch Fontane fluchte gehörig über den Bau. Aber noch in jüngster Zeit spukt es dort. In den letzten 40 Jahren haben das vor allem Hunderte Künstler aus aller Welt erfahren, da dort als Senatsstipendiaten wohnen mussten. Viele berichteten mir unabhängig voneinander von sehr ähnlichen Erlebnissen. Von alten Männern, die durch Wände gehen und von Vasen, die regelmäßig platzen, von nächtlichem Wimmern, und von Geistern, die sie wecken, und nur auf deutsch auf sie einreden. Dass Geister nur deutsch mit ihnen sprachen, war wohl die schrecklichste Erfahrung für die internationalen Künstler. Ich verbrachte mit meiner reizenden Assistentin dann auch eine Nacht dort, in der Hoffnung, dass mir ein Geist ins Netz geht. Immerhin fand ich eine Gespensterlarve, was ich aber erst viel später bemerkte. Das alles kann man in der Geschichte "Gespensterjagd in Bethanien" nachlesen, es ist auch die längste Geschichte in meinem Buch.

Wie kann man Gespenster am besten aufspüren? Gibt es einen Königsweg dafür?

Wahrscheinlich merkt man es zunächst nicht, wenn man ihnen begegnet. Erst wenn man genau nachdenkt, was man erlebt hat, welche Spuren es gab, findet man sie nachträglich. Sobald man sie erkennt und dechiffriert, ist es großartig: Gänsehaut, Schrecken, aber auch Schönheit. Alles passt zusammen. Das Gespenst zeigt sich zwischen den Dingen.

Mal ehrlich: Wann ist Ihnen persönlich zuletzt ein Geist begegnet?

Vor einigen Monaten begegnete ich immerhin einigen parapsychologischen Geisterjägern, da war ich in Freiburg im Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) zu einer Lesung geladen. Das war hochinteressant. Die Form der angewandten und tatsächlich auch interdisziplinären Wissenschaft, die dort neben der psychologischen Beratung praktiziert wird, habe ich als sehr produktiv empfunden. Die zerlumpten, jammernden Geister der vereinheitlichten und auf Antragsprosa-Niveau sich beschränkenden Universitätskultur haben dort eine kleine Zuflucht vor der totalen Verblödung des menschlichen Verstandes gefunden.

Wie verhält man sich denn am besten, wenn es bei einem spukt?

Die meisten Menschen haben das Bedürfnis, den Spuk in ihren Wohnräumen zu erlösen oder zu vertreiben. Dafür habe ich großes Verständnis. Man kann sich professionelle Hilfe holen oder sich mit Freunden ein Ritual überlegen. Jedenfalls würde ich es mir mit einem Spuk nicht kuschelig einrichten, das kann nicht gut gehen. Ich hatte mich damals in der WG entschieden, dem Spuk nicht zur Verfügung zu stehen. Letztlich bin ich ausgezogen, denn ironischerweise hatte sich genau das bewahrheitet, was die alte Frau, die in meinem Zimmer gestorben ist, als Wahlspruch immer gesagt haben soll: Putzen, Mädels, dann kriegt ihr auch einen Ehemann! Ich bin dann lieber zu meinem Mann gezogen, den ich gerade neu kennengelernt hatte.

Gibt es eigentlich verwunschene oder verfluchte Orte in Berlin?

Sie meinen jetzt sicher den neuen Flughafen BER? Ich hoffe, dass vor seiner Inbetriebnahme wenigstens ein Bund Salbei über der Landebahn abgeräuchert wird, und dass es schnellstens eine Fluch-Beauftragte bei der Aufsichtsbehörde oder im Büro des Bürgermeisters gibt, die ihren Einfluss bei den wesentlichen Instanzen geltend machen kann.

Welchen Ort würden Sie denn um keinen Preis nachts betreten?

Die Parks. Wie schon verstorbene Berliner Feuilletonist Heinz Knobloch schrieb: Misstraut den Grünanlagen! Im Krieg wurden in den Parks die Leichen notdürftig begraben und auch vergessen. Außerdem hätte ich nachts Angst um meine Handtasche und meine Unversehrtheit.

Die Schriftstellerin Sarah Khan hat familiäre Wurzeln in Pakistan. Sie studierte Volkskunde und Germanistik, 1999 erschien ihr erster Roman "Gogo-Girl". Seither veröffentlichte sie weitere Romane, wie auch Reportagen und Essays in Magazinen und Zeitungen. Sie lebt in Berlin.