Reportage

Die Sterne von Neukölln

| Lesedauer: 11 Minuten
Claudia Becker

Zum Paradies geht es in die Richardstraße. Gleich neben "Sommerfeld Spirituosen", hinter einem Gartentor. Ein paar Blüten erinnern daran, dass es mal Sommer war. Jetzt ist es Herbst. Halbdunkel schon am frühen Nachmittag. Aber an den verschiedenen Stationen des Comenius-Gartens lässt sich immer noch ablesen, was der tschechische Pädagoge und Theologe Johann Amos Comenius, nach dessen Ideen hier gepflanzt wurde, wollte.

Ein Garten war für ihn die Welt, in dem der Mensch wächst, zur Schule geht. "Nun, wie kann es gelingen, ein neues Paradies zu pflanzen?", fragte er. Selbstsehen, sagte er. Selbstsprechen, Selbsthandeln - Selbstbestimmung war für ihn die "Methode des Paradieses zur Vollendung der Schöpfung". Selbstbasteln hat er nicht gesagt. Aber wenn er gewusst hätte, was seine Glaubensgeschwister, die gleich gegenüber des Comenius-Gartens leben, einige Jahre nach seinem Tod fabrizierten, er hätte es gut geheißen. Denn die Sterne der böhmischen Protestanten, die sich zur Herrnhuter Brüdergemeine zusammengetan hatten, sind nicht nur ein Symbol der Liebe. Sie sind Symbol eines Christentums, das nicht auf Dogmen hört, sondern auf eigene Erkenntnis und auf das Herz.


Gewalt in grauen Mietskasernen. Schulen, an denen sich die Lehrer vor den Schülern fürchten. Gescheiterte Versuche, Menschen mit Migrationshintergrund zu integrieren. Neukölln ist Deutschlands berühmtester Problembezirk. Und das einzige, was irgendwie fromm an ihm zu sein scheint, ist die Tatsache, dass er so arm ist wie eine Kirchenmaus. Gerecht ist das nicht. Denn in Neukölln wird seit mehr als 270 Jahren eine religiöse Tradition gepflegt, die zu keiner Zeit des Jahres sichtbarer ist als im Advent. Dann leuchten sie wieder an den alten Häusern des Böhmischen Dorfes, in der Kirchgasse und im Jan-Huis-Weg, in der Richardstraße und im Wanzlikpfad, die Herrnhuter Sterne. Diese zauberhaften Gebilde aus 25 Zacken. Mal rot, mal gelb, mal zweifarbig. Sie glitzern nicht, sie glänzen nicht. Sie strahlen. Es erklingt kein unbekümmertes "Jingle Bells" im inneren Ohr, wenn man an dunklen Abenden über das Kopfsteinpflaster geht und einen Herrnhuter Stern erblickt. Eher ein ernstes "Morgenstern auf finstre Nacht" aus dem 17. Jahrhundert, eines der beliebtesten Weihnachtslieder der Herrnhuter Brüdergemeine.

1737 trafen 200 Glaubensflüchtlinge aus Böhmen in Rixdorf ein. Es war ein ganzes Dorf, Böhmisch-Rotwasser, das sich auf den Weg gemacht hatte, weil die protestantischen Bewohner in ihrer habsburgischen Heimat diskriminiert wurden. Sie konnten nur wenig mitnehmen, als sie auszogen, und ihre Zukunft war ungewiss. Als König Friedrich Wilhelm I. die Heimatlosen, die sich zunächst im Sächsischen niedergelassen hatten, einlud, nach Rixdorf zu kommen, war das für sie ein Zeichen des Himmels. Der König schenkte ihnen Häuser und etwas Ackerland. Und eine neue Heimat, in der sie ihren Glauben ungestört leben konnten. Uneigennützig war das nicht. Friedrich Wilhelm I. wusste, dass die Böhmen gute Handwerker waren, anständige Menschen mit protestantischem Fleiß, der Preußen zugute kommen sollte. Die Böhmen waren ihm dennoch dankbar. 1912 widmeten ihm die Nachfahren der Exulanten ein Denkmal. Ein Relief am Sockel zeigt die Glaubensflüchtlinge. Einen Handwagen haben sie dabei. Eine Umhängetasche. Und die Bibel.

Sie alle sahen sich in der Tradition der seit 1457 bestehenden Kirche der Böhmischen Brüder. Richtig einig waren sie sich aber nicht, als sie nach Rixdorf kamen. Gestritten wurde vor allem um das richtige Verständnis des Abendmahls. Aber sie zerfleischten sich nicht, zu frisch waren die Erinnerungen an handfeste Kämpfe im Namen des Glaubens. Und Comenius, Bischof der Böhmischen Brüderkirche, hatte stets betont, wie wertlos ein Glaube war, der auf Gewalt beruhte. So entstanden in dem kleinen Ort einfach drei verschiedene evangelische Kirchengemeinden. Eine Evangelisch-reformierte, eine Evangelisch-böhmisch-lutherische und eine Evangelische Herrnhuter Brüdergemeine. Alle drei Gemeinden existieren noch heute. Die Herrnhuter aber sind nach wie vor die größte Fraktion.

Gegründet wurde die Bewegung 1722 von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Er hatte auf seinem Gut Berthelsdorf in der Oberlausitz ebenfalls böhmische Glaubensflüchtlinge aufgenommen. Nach seinem Tod übernahmen sie sein Gut. Weil sie sich unter der "Obhut des Herrn" sahen, nannten sie ihre Kolonie "Herrnhut". Heute hat die Herrnhuter Brüdergemeine weltweit 825 000 Mitglieder, rund 600 000 in Afrika.

Als sich die Herrnhuter in Rixdorf einrichteten, waren sie noch eine kleine Gemeinschaft. 1751 bekamen sie einen eigenen Friedhof, den Böhmischen Gottesacker, auf dem immer noch die tschechischen Inschriften auf den Grabsteinen an die Heimat der Exulanten erinnern. 1753 gründeten die Herrnhuter, die ganz im Sinne von Zinzendorf großen Wert auf Bildung legten, ihre eigene Schule. Heute ist in dem historischen Gebäude ein kleines Museum untergebracht. Eine alte Kirchentracht ist hier zu sehen. Gesangbücher, Bibeln. Und historische Sterne. Und wenn man einen der Mitarbeiter des Museums befragt, woher der Stern eigentlich kommt, dann kann man etwas erfahren von dem religiösen Eifer der Herrnhuter Missionare und der Traurigkeit ihrer Kinder, die irgendwann von den Eltern getrennt wurden.

Sie waren erst fünf, als sie Abschied nehmen mussten. Schon früh hatten sie gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse hinter die große Sache zu stellen. Aufgewachsen sind sie im Vertrauen auf Gottes Liebe, in Pflichtgefühl, in der Bereitschaft, Opfer zu geben. Für die große Aufgabe, den Heiden in aller Welt die Botschaft des Evangeliums zu bringen. Missionarskinder waren sie, streng erzogen, aber nicht weniger verletzlich als andere Mädchen und Jungen. In den Häfen von Surinam, Alaska oder Grönland spielten sich im 18. und 19. Jahrhundert dramatische Szenen ab, wenn die Missionare ihren Kindern ein letztes Mal zuwinkten, bevor sich das Schiff auf die lange ungewisse Reise machte. Nach Deutschland, wo die Kleinen in einer Brüdergemeine erzogen werden sollten. In der Knabenanstalt im sächsischen Kleinwelka zum Beispiel. Der Lehrer Hermann Bourquin wusste, dass seine Zöglinge ihre Eltern zu keiner Zeit mehr vermissen würden als zur Weihnachtszeit. Und deshalb ersann er um 1880 eine Bastelarbeit, die nicht nur das geometrische Grundwissen erweitern, sondern auch für gute vorweihnachtliche Stimmung sorgen sollte: Hermann Bourquin ließ die Jungen aus 25 vier und dreieckigen spitzen Pyramiden einen Stern basteln, wie sie ihn nie zuvor gesehen haben. Er war dreidimensional, groß und strahlend.

Bourquin hatte den Stern nicht erfunden. Schon 1821 hatte anlässlich einer Jubiläumsfeier ein solch zackiges Gebilde in der Unitäts-Knabenanstalt in Niesky gehangen. Aber Bourquin hatte die Idee, das gemeinsame Basteln zu einem Ritual zu machen, ein Stück Familienidylle zu schaffen. Den Kindern gefiel das. Und als irgendjemand der Gedanke kam, in die Mitte ein Öllicht zu stellen, spendete der Stern den schmucklosen Räumen ein warmes Licht, das nicht nur an Bethlehem erinnerte, sondern auch gegen Heimweh half.

Die Herrnhuter begannen bald, den Stern in eigenen Manufakturen herzustellen und zu verkaufen. 1924 entstand die Sternegesellschaft mbH. Nach dem 2. Weltkrieg wurde sie verstaatlicht. Jetzt stellte ausgerechnet die DDR, der Staat, der Religion zu Opium fürs Volk erklärte, christliche Symbole her. Den Stern jener Herrnhuter Kirche, die schließlich auch die staatlichen Zensurstellen beschäftigte. Sie kontrollierten nämlich regelmäßig die berühmten "Herrnhuter Losungen" mit den beiden Bibelsprüchen für jeden Tag, die in Millionenauflage in vielen Sprachen weltweit erschienen. Die Sprüche wurden nach dem Zufallsprinzip gezogen, die Zensoren trauten ihnen trotzdem nicht. Auch deshalb, weil einmal an einem Jahrestag zum Mauerbau der verfängliche Psalm zu lesen war: "Machet die Tore weit und die Türen der Welt hoch". Das war ärgerlich, aber nicht der Grund dafür, dass das Staatsunternehmen Ende der 60er-Jahre die Herrnhuter bat, die Produktion der Sterne doch wieder zu übernehmen. Die Nachfrage, vor allem aus dem Ausland, war einfach zu groß, so dass der volkseigene Betrieb mit der Produktion nicht mehr nachkam. Der Stern verbreitete sich schließlich in der ganzen Welt. Seitdem kennzeichnet es das christliche Symbol, dass es dort am hellsten leuchtet, wo man es am wenigsten vermutet. In einer Hotellobby in Dubai zum Beispiel. Oder in Neukölln.

Der Stern, der im Betsaal es Böhmischen Dorfes hängt, wirkt besonders strahlend in dem großen lichtdurchfluteten Raum. Die Bänke sind weiß und die Wände auch. Es gibt keinen Altar, kein Kreuz. "Alles, was wir erleben, ist Gottesdienst", sagt Christoph Hartmann, Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine. "Deshalb gibt es in dem Betsaal keine besonderen Heiligtümer." Und das Weiß? "Es zeugt von unserem heiteren Glaubensverständnis", sagt der 44-Jährige. "Wir bestatten unsere Toten auch in weißen Särgen und singen fröhliche Osterlieder zum Begräbnis." Das Glaubensverständnis der Herrnhuter hat viel mit eigenen Erfahrungen zu tun, über die man sich austauscht. Von "Herzensfrömmigkeit" spricht Christoph Hartmann. Der Pfarrer ist keine unanfechtbare Autorität, der von der Kanzel herunter den Menschen sagt, was sie zu glauben haben. Bei den Herrnhutern ist jeder verpflichtet, selbst die Bibel zu lesen und für sich auszulegen. "Wenn wir Jesum kennen", schrieb Zinzendorf, "so kennen wir alles, was wir in der Gottheit notwendig wissen müssen." Auch deshalb, weil Jesus, wie er in den Evangelien beschrieben wird, mit Frauen ebenso befreundet war wie mit Männern, sah Zinzendorf keinerlei Grund, Frauen eine untergeordnete Rolle zuzuordnen. Paulus machte er es zum Vorwurf, dass er die Frau in der Gemeinde zum Schweigen verurteilte. Das war ketzerisch. Aber die Herrnhuter kennen eben keine Dogmen. Und keine Berührungsängste. Seit Jahren gibt es im Böhmischen Dorf Gesprächsrunden mit den Muslimen der Osman-Pascha-Moschee. Zum Abschluss einer Veranstaltungsreihe "Religion im Kiez" trafen sich im Betsaal Aleviten, Hindus und Christen. Es war ein besonderes Fest. Nicht nur deshalb, weil der Raum, in dem so sparsam mit christlichen Symbolen umgegangen wird, dafür besonders geeignet ist, weil er die Gemeinsamkeiten mehr heraushebt als die Unterschiede. Sondern auch deshalb, weil sich hier Menschen getroffen haben, die alle mal als Fremde angekommen sind. Gleichgültig, ob vor sieben Monaten oder 270 Jahren.

Rund 600 Schwestern und Brüder gehören heute noch zu den Herrnhutern in Neukölln.Viele kommen aus dem Umland. Und einige aus dem Böhmischen Dorf sind Nachfahren der ersten Glaubensflüchtlinge. Sie heißen Motel oder Matschat, Zoufall oder Krystek. Tschechisch sprechen sie nicht mehr. Aber in der Weihnachtszeit singen sie noch immer das alte Lied "Cas radosti", Zeit der Freude. Unterm Herrnhuter Stern.

Friedrich Wilhelm I. holte die Glaubensflüchtlinge

Sie singen fröhliche Lieder zum Begräbnis