Berliner Merkwürdigkeiten

Die Karawane von Neukölln

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Sophia Seiderer

Fatima und Ali sind zwei mongolische Steppenkamele. Sie sind zwei und vier Monate alt. Fatima ist scheu und zurückhaltend. Der Junge Ali ist ein "Schmuser" und will ständig kuscheln. Sie haben sich ein schönes Plätzchen ausgesucht - mitten in Berlin.

In der Harzerstraße nahe des Maybachufers, umgeben von Hochhäusern, Kneipen und Geschäften Neuköllns. Dort grasen sie auf einem Mauergrundstück, liegen in der Sonne und spielen. Nebenbei mähen sie Zentimeter für Zentimeter den Rasen ab.

Während Kamelpapa Ali derzeit bei einem Bauern auf dem Land urlaubt, haben sich Kamelmütter und Kinder für einen Städtetrip entschieden. Sie weilen mit ihrem Besitzer, Samuel Endres vom Zirkus "Magic", lieber in Neukölln. Schon das fünfte Jahr gastiert der Familienzirkus dort. "Jedes Mal sagen die Leute: Schau mal, die Kamele sind wieder da!", sagt Samuel Endres, der Zirkusdirektor. Das sei schon eine Attraktion für die Anwohner, Kamele mitten in Berlin.

Die meiste Zeit darf die Kamelfamilie faul sein, nur einmal am Tag marschieren sie um 17 Uhr nachmittags zur Vorführung in die Zirkusmanege. "Dressiert sind die Tiere noch nicht. Schließlich mussten sie die Jungen erst austragen und sich jetzt um sie kümmern", so Endres. Das ist auch der Grund, warum Papa Ali ausquartiert wurde. "In der Phase könnte sich der Vater von den Jungtieren gestört fühlen, also warten wir, bis sie größer und sicherer sind, bevor wir Ali wieder zurückholen."

Schon der Großvater und Vater von Endres waren Zirkusdirektoren. Die vier Kinder von Endres und seiner Frau, drei Jungs und ein Mädchen, sind bereits die vierte Generation in der Zirkusfamilie. Sie haben nur noch eine helfende Hand für die Tiere, sonst managen sie den Zirkus eigenständig. Das Zirkuszelt aufbauen, Tiere dressieren, die Akrobatik- und Clowns-Nummern in der Zirkusshow, die Kinder Pony reiten lassen, Tickets verkaufen. Einmal am Tag wird geprobt, Bodenakrobatik oder Dressur mit den Ponys. Noch bis zum 15 August bleibt die Zirkusfamilie mit ihren Tieren dort, bis sie weiterziehen, in den Prenzlauer Berg.

Auch wenn die beiden jungen Kamele noch vom anstrengenden Zirkus-Alltag verschont bleiben, mussten Ali und Fatima doch schon etwas lernen: Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Besonders nicht, wenn man sich die Wiese mit vielen Ponys, Ziegen und einem Lama teilen muss. Zwar kennen sich alle Tiere von klein auf und sind zusammen aufgewachsen. Doch wenn es um das Futter geht, dann entsteht schon mal Streit. Besonders das Lama Roggy versteht in dem Punkt keinen Spaß. Vor allem nicht bei Delikatessen wie Karotten oder Heu. Roggy hat da eine ganz durchtriebene Strategie. "Er rotzt den Kamelen erst mal einen vor den Latz", sagt der Zirkusdirektor. Roggy spuckt um sich, wenn er das Futter ganz für sich alleine haben will.

Da sieht man natürlich alt aus, wenn man ein Kamel ist. Mit den gleichen Waffen zurückzuschlagen - schwierig. Auch mit der zurückhaltend feinen Art, punktet man da nicht. Denn ausgewachsene Kamele können durchaus zwei Wochen ohne Wasser und Futter auskommen und trotzdem 50 Kilometer am Tag Wegstrecke zurücklegen, sagt Samuel Endres.

Aber nur alle zwei Wochen Karotten? Und Roggy völlig das Feld überlassen? Das würde wohl kein Kamel tun. Der Gentleman unter den Kamelen würde wohl folgendermaßen vorgehen: Ein Lama zählt nämlich ebenso zur Gattung der Kamele. Sie sind nur kleiner. Wenn sie sich belästigt fühlen, dann spucken sie. Meistens halb verdauten Mageninhalt. Transparent, zähflüssig, eklig. Damit wollen sie vor allem eines: Rangordnung herstellen. Großkamele hingegen neigen nicht zu den ästhetisch wenig ansprechenden Rotzereien. Sie spucken selten. Muss man ja auch nicht, wenn man eh schon größer ist.

Der Gentleman strahlt natürliche Überlegenheit aus. Und rotzt nicht durch die Gegend. Schon gar nicht mitten in der Stadt. Das würde den freundlichen Zirkusbesucher, der mit einer Tüte voller Brötchen und Karotten vorbeikommt, nur abschrecken. Deswegen geht die Tüte dann auch an die Kamele. Denn die können sich benehmen. Und können in kürzester Zeit ganz viel Wasser aufnehmen beim Trinken. Außerdem Fett in ihren Höckern speichern. Da sieht das Lama dann alt aus.