Berliner Merkwürdigkeiten

Die Berliner Seidenstraße

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Claudia Becker

Der König war außer sich. "Glaubwürdigen Berichten zufolge", schrieb Friedrich II. am 11. Juni 1755 an die Kriegs- und Domänenkammer zu Berlin, "werden die meisten Maulbeerbaum-Plantagen nicht richtig kultiviert, sondern von Anfang an dadurch verdorben, dass die Baumwurzeln nicht ordentlich beschnitten werden, und dass sie wahllos ohne Rücksicht auf die Bodenbeschaffenheit angesetzt werden."

Die Kammer solle gefälligst dafür Sorge tragen, dass die Fehler behoben werden.

Das Schreiben lässt nur erahnen, wie ungehalten Friedrich war. Denn die Maulbeerbäume lagen ihm besonders am Herzen. Schon Friedrichs Vater, Friedrich Wilhelm I., wollte, dass auf allen Berliner Schulhöfen, öffentlichen Plätzen und Friedhöfen die Bäume gedeihen. Auf ihnen aber sollten sich jene kleinen Tierchen satt fressen, von denen die Regenten erwarteten, dass sie Preußen einen besonderen Glanz verleihen: Den Glanz der Seide.

Mitte des 18. Jahrhunderts wuchsen mehr als 2000 Maulbeerbäume allein in Berlin, auf denen es sich die Seidenraupen gut gehen ließen und ganz nebenbei ihre feinen, kostbaren Fäden spannen.

An die blühende Seidenproduktion in Preußen erinnern heute noch ein paar wenige Maulbeerbäume. Die drei Exemplare auf dem alten Friedhof in Zehlendorf etwa halten seit mehr als 200 Jahren die Stellung. Der Zehlendorfer Dorfschullehrer Ferdinand Ernst Schäde, der im Nebenerwerb Seide produzierte, hat sie gepflanzt. Knorrig, windschief und hohl, müssen sie heute von Metallstangen gestützt werden. Doch Kriege und Brennholzmangel konnten ihnen ebenso wenig anhaben wie eiskalte Winter. Ein Wunder.

Der Maulbeerbaum ist ein wunderbares Gewächs. Er treibt nicht nur im Frühjahr frische Blätter, sondern den ganzen Sommer hindurch. Und von den süßen Früchten, die zurzeit an den Bäumen reifen, kann man Wochen lang immer wieder neue ernten. Aus diesem Grund dient der Maulbeerbau als Symbol für stetiges Wachstum, für Entwicklung und Erneuerung. Und deshalb mag es nicht nur an der Botanik im alten Israel gelegen haben, dass es eben ein Maulbeerbaum war, auf den im Lukasevangelium der klein geratene Zöllner Zachäus kletterte, um Jesus in einer Menschenmenge zu sehen. Hinab stieg der Sünder als ein erlöstes Gotteskind.

Friedrich II. indes hatte mit dem Anbau der Maulbeerbäume weniger die Auferstehung der Seele als Preußens landwirtschaftlichen Fortschritt und die Fülle seiner Staatskasse im Blick. Denn der Anbau von Maulbeerbäumen sollte nicht nur den teuren Import von Seide begrenzen und damit den Abfluss von Devisen, sondern auch dafür sorgen, dass die Bauern ihre Steuern bezahlen konnten, die er schließlich für seine kostspieligen Kriege brauchte. Jeder Bauer, so befahl er 1775, müsse sich mit dem Seidenanbau beschäftigen. "Wenn ein Bauer auch nur so viel Bäume oder Hecken anlegt", hieß es in der Ordre, "dass er ein oder zwei Pfund gewinnen kann, so ist das ziemlich hinreichend, seine Kontributionen zu zahlen." Friedrich ließ sich den systematischen Seidenanbau einiges kosten. Er spendierte finanzielle Starthilfen, ließ Maulbeerbaumsamen verteilen und Raupeneier. Experten aus dem Ausland berieten die ahnungslosen märkischen Landwirte, von denen sich etliche durchaus bemühten. Schließlich gab es Prämien für besondere Erträge. 1784 waren auf preußischen Maulbeerbäumen immerhin 13 432 Pfund Seide entstanden.

Das klingt viel, machte aber nur fünf Prozent dessen aus, was tatsächlich in Preußen für die kostbaren Gewebe und feinen Stickereien verbraucht wurde. Preußen ist nicht China, wo die Maulbeerbäume ursprünglich beheimatet sind. In Preußen war es oft zu kalt. Und für die Ansprüche der empfindlichen Raupen hatten die Bauern einfach nicht genügend Zeit. Doch nachdem Friedrich II. 1786 gestorben war, wurden die Landwirte von der Pflicht zur Raupenzucht befreit. Freiwillig luden sich nur die wenigsten die Last auf.

Mitte des 19. Jahrhunderts startete noch einmal ein groß angelegter Versuch, Berliner Seide zu produzieren. Der Unternehmer und Seidenhändler Johann Adolf Heese ließ in Steglitz eine ganze Maulbeerplantage anlegen. Bis zu 750 Kilogramm Seide entstanden hier im Jahr. Doch Ende des 19. Jahrhunderts raffte eine Seuche die Seidenraupen dahin. Das war das Ende der großen Berliner Seidenproduktion. Heute erinnert in Steglitz noch die Plantagenstraße an die Zeit, als sich hier überall nimmersatte Raupen durch die Maulbeerbäume fraßen. Oder die Filandastraße, benannt nach der italienischen Bezeichnung für das Gerät, das zum Abhaspeln des Seidenkokons benötigt wird. Und auch in Steglitz, auf dem Althoffplatz, steht heute noch ein alter Maulbeerbaum, der Geschichte erzählt.