Küssen

Hauptsache, es schmeckt

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Das Gespräch führte Eva Sudholt.

A Kiss is just a Kiss, sang einst Dooley Wilson in "Casablanca". Oft zitiert, meistens falsch verstanden. Ein Kuss ist nur ein Kuss, flüchtig und bedeutungslos, so wird das Lied "As time goes by" in der Regel verstanden. Aber so hatte der Komponist Herman Humpfeld das gar nicht gemeint.

Ein Kuss bleibt vielmehr immer ein Kuss, so zärtlich und wertvoll wie eh und je, ganz gleich, welche Erfindungen und Wandlungen die Welt noch hervorbringt, ganz gleich, wie viel Zeit vergeht. Keine Geste verheißt so viel Nähe und Aufgeschlossenheit wie ein Kuss. Keine ist ein stärkeres Symbol für Liebe und Zuneigung. Aber warum küssen sich die Menschen überhaupt, und warum tun sie das so gern? Elisabeth Oberzaucher ist Verhaltensforscherin an der Universität Wien. Zusammen mit dem bekannten Anthropologen Karl Grammer erforscht sie am Ludwig-Boltzmann-Institut für Stadtethologie die biologischen Gesetze der Partnerschaft. Geruch, Bewegung und Geschmack, das alles sind Faktoren, die die Partnerwahl beeinflussen. Welche Bedeutung das Küssen hat, welchen Ursprung und Zweck, erklärt Elisabeth Oberzaucher im Interview.

Berliner Illustrirte Zeitung:

Frau Oberzaucher, warum ist Küssen so schön?

Elisabeth Oberzaucher:

Zunächst einmal werden beim Küssen Endorphine, also Glückshormone, ausgeschüttet, soviel dürfte bekannt sein. Vor allem aber wird durch den Kuss eine besondere Bindung zwischen zwei Menschen hergestellt. Und das macht uns glücklich.

Wodurch entsteht diese Bindung?

Ähnlich wie beim Sex, nur in geringerer Dosis, wird beim Küssen das Hormon Oxytocin freigesetzt, das großen Einfluss auf die Paarbindung nimmt. Besonders viel davon wird bei der Geburt eines Kindes ausgeschüttet, es steuert die emotionale Bindung der Mutter an ihr Baby. Wenn zwei Menschen sich küssen, gehen sie also rein biologisch gesehen schon eine Bindung ein. Vasopressin sorgt außerdem für einen erhöhten Blutdruck, und das empfinden wir als aufregend.

Warum küssen wir uns überhaupt?

Da gibt es zwei Ansätze. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt beschreibt den Kuss als ritualisierte Fütterung. Heute füttern wir Kinder mit Löffel und Brei, aber früher zerkleinerten die Mütter die Nahrung in ihrem Mund und gaben sie auch über den Mund an ihren Nachwuchs weiter. Eine Geste der Fürsorge, der Nähe und Liebe, die Bindung zwischen Mutter und Kind ist praktisch die stärkste, die es gibt. Und bei vielen Völkern findet man diese Art der Fütterung auch heute noch, bei den Himbas in Namibia zum Beispiel.

Aber warum küssen sich dann erwachsene Menschen?

Sehen Sie, ein Lehrer von mir hat immer einen klugen Satz gesagt, und jetzt sage ich ihn auch: Die Evolution ist ein Flickschuster. Das heißt, ein Lebewesen hat verschiedene Anlagen, die er im Laufe seiner Entwicklung erworben hat. Der ursprüngliche Zweck geht irgendwann verloren, doch die Anlagen bleiben bestehen. Und die kann man sich zunutze machen. Der Mensch hat zum Beispiel die Mund-zu-Mund-Fütterung als angenehme Erfahrung verbucht...

...Als lustbringenden Akt, den man wiederholen möchte.

Richtig. Man könnte sagen, dass diese Empfindung - oder genauer: die Fähigkeit zu einer solchen Empfindung - in den menschlichen Genen gespeichert ist. Der Akt an sich, das Füttern, ist zwar hinfällig geworden, aber warum auf die schöne - und vor allem nützliche - Erfahrung des Küssens verzichten?

Was heißt denn hier nützlich?

Damit kommen wir zum zweiten Ansatz. Wir können heute davon ausgehen, dass die Menschen sich bei einem Kuss gegenseitig prüfen. Sie prüfen sich beim Küssen, ob sie genetisch füreinander geeignet sind. Der Geschmack des Speichels gibt Auskunft darüber, ob die beiden Immunsysteme miteinander harmonieren. Der Mensch ist dazu veranlagt, Bindungen einzugehen, um für Nachwuchs zu sorgen. Das Küssen ist praktisch zu einem Instrument geworden, um den richtigen Partner zur Fortpflanzung zu finden.

Ein Kuss ist nur ein Test?

Könnte man so sagen. Zumindest ein Teil davon. Wir prüfen einen Menschen auf die verschiedensten Merkmale, wir betrachten seine Bewegung und erfahren dadurch etwas über seine Eigenschaften. Zum Beispiel ist mir jemand, der sich ähnlich bewegt wie ich, zunächst sympathischer. Auch der Geruch spielt eine wichtige Rolle, der darf meinem nicht zu sehr ähneln, sich aber auch nicht zu stark von ihm unterscheiden. Schweiß und Speichel sind letztlich für die Partnerwahl entscheidend. Daran erkennen wir, ob wir mit der Person gesunde Kinder zeugen können.

Und wenn es beim Küssen nicht klappt? Hat die Beziehung überhaupt eine Chance?

Ein Aspekt allein reicht eigentlich nicht aus, um eine Beziehung zu verhindern. Es geht mehr um das Gesamtbild. Vor allem aber ist es so, dass man von den verschiedenen Merkmalen einer Person auf die anderen schließen kann. So falsch kann man also meistens nicht liegen.

Ein Kuss ist also doch nur ein Kuss?

Wenn zwischen zwei Menschen alles andere stimmt, ist es tatsächlich nicht dramatisch, wenn das Küssen nicht perfekt ist. Aber ein Kuss ist nicht nur ein Kuss, er ist die wahrscheinlich zärtlichste Geste, auf die wir Menschen zurückgreifen können. Mit einem Kuss offenbare ich mich, ich gebe viele Informationen über mich preis. Gleichzeitig erfahre ich diese Informationen auch von meinem Gegenüber. Man lässt mit einem Kuss sehr viel Nähe zu.

In etwa so viel Nähe wie beim Sex? Die Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld, die mehrere Bücher über das Küssen geschrieben hat, behauptet ja, ein Kuss sei ein symbolischer Geschlechtsverkehr.

In Romanen und so liest man ja immer wieder, dass Prostituierte sich weigern, ihre Freier zu küssen. Keine Ahnung, ob das wirklich stimmt, das wäre mal eine interessante Untersuchung, aber allein dieser Mythos sagt doch einiges darüber aus, was für eine wichtige Rolle der Kuss für die Menschen spielt. Eine intime, emotionale Angelegenheit. Aber dass der Kuss ein symbolischer Geschlechtsakt ist, so weit würde ich nicht gehen. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht kann man so etwas vielleicht behaupten. Als Biologin sehe ich das etwas anders.

Wenn man sich die küssenden Menschen von Holly Wilmeth ansieht, hat man gleich ein positives Gefühl von Nähe.

Genau, man fühlt sich fast selbst geküsst. Die offene Ausstrahlung springt auf den Betrachter über, das bewirken die Spiegelneuronen. Wir sind in der Lage, uns in andere Menschen hineinzuversetzen. Der Anblick eines Menschen, der einem einen Kuss zuwirft, öffnet uns selbst für ihn.

Küssen sich denn alle Menschen auf der Welt?

Es gibt bei den Inuit diesen Brauch des Nasenkusses, das kennt man ja. Und in einigen Ländern geht man mit dem Küssen schamhafter um als bei uns, das passiert nicht in der Öffentlichkeit. Aber eigentlich kann man davon ausgehen, dass sich alle Menschen auf der Welt gerne küssen. Das ist eine Sprache, die jeder versteht.