Paris bei Nacht. 1937. Es war, als würde sich Hannes Kilian nur langsam, nur vorsichtig heranzutasten wagen an die tosende Großstadt und ihre Abgründe, die so reizvoll waren und so beängstigend.
Hannes Kilian war ein ebenso sensibler wie großartiger Chronist der modernen Welt. Der Martin-Gropius-Bau widmet dem am 13. November 1909 in Ludwigshafen geborenen Fotografen anlässlich seines 100. Geburtstages eine umfangreiche Ausstellung und gibt damit einen tiefen Einblick in die Sichtweise eines Enkels der industriellen Revolution.
Diese hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Doch die ganze Dramatik der Entwicklung, die erdrutschartigen Umbrüche mit ihren Folgen für Politik und Kultur, für den Alltag der Menschen, das alles offenbarte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Kilian spürte mit seiner Kamera wie kein anderer die unterschiedlichen Facetten auf. Die Bilder, die bei seinem Besuch in der französischen Hauptstadt im Jahr 1937 entstanden, sind dafür exemplarisch. Anlass seiner Reise nach Paris war nicht das Nachtleben, sondern die Weltausstellung, die nach achtjähriger Vorbereitung am 24. Mai eröffnet wurde und eindringlich die politischen Verhältnisse in Europa zum Ausdruck brachte. Sie waren düster.
Vielleicht war das der Grund dafür, dass Kilian auch auf dem Ausstellungsgelände häufig nach Sonnenuntergang mit der Kamera unterwegs war. Der Lichtturm des Pavillon de la Marine Marchande, der sich als leuchtende Spirale in den Himmel schraubte, brauchte, unabhängig von politischen Verhältnissen, das Dunkel, um zur Wirkung zu kommen. Doch die monumentalen Pavillons des Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion standen sich wie zwei Raubtiere gegenüber. Hakenkreuz gegen Hammer und Sichel. Kilian hält die Stein gewordenen Diktaturen fest, von unten. Er dokumentiert ihre monströse Größe und entlarvt ihre Hohlheit.
Im spanischen Pavillon zeigte Picasso sein Werk "Guernica", das der von der deutschen Legion Condor im Bürgerkrieg zerstörten baskischen Stadt gewidmet war.
Nur wenige Jahre nach der Pariser Weltausstellung lag ganz Europa in Trümmern.
Hannes Kilian, der, abgestoßen von den Nationalsozialisten, schon 1933 Deutschland verlassen hatte, um sich in Italien und später in Frankreich eine Existenz aufzubauen, musste 1938 nach Stuttgart zurückkehren. Ausländern war in Frankreich die Arbeitserlaubnis entzogen worden. Kilian wurde 1941 als Kriegsberichterstatter eingezogen. Vielleicht waren es die Bilder, die er an den Kriegsschauplätzen gesehen hat, die ihn dazu veranlassten, das ganze Elend des Bombenkrieges zu dokumentieren.
Offiziell war es verboten, die Luftangriffe auf die deutschen Städte, die Ruinen zu fotografieren. Zu sehr würden sie den Glauben an den Endsieg erschüttern. Kilian hielt sich nicht daran. Als im Juli 1944 britische und amerikanische Flieger ihre Bombenangriffe auf Stuttgart starteten, drückte er auf den Auslöser. Immer wieder. Nacht für Nacht. Kilian fotografierte die ebenso verzweifelten wie aussichtslosen Versuche, das Feuer zu bannen, er hielt mit der Kamera drauf, als schwer verletzte und tote Opfer aus den Trümmern geborgen wurden, er war mit dabei, als versucht wurde, die aufgereihten Leichen zu identifizieren. 4562 Zivilisten starben bei den insgesamt 53 Angriffen, auch viele alliierte Soldaten kamen um. Von den begeistert begrüßten Wehrmachtstruppen bei ihrem Marsch durch Stuttgart, die Kilian zuvor als Kriegsberichterstatter fotografierte, hatte das nichts. Hier war Trauer, Elend und Zerstörung.
Doch Kilian spürte auch immer wieder die Hoffnung auf: Stuttgart war zerstört. Das Leben ging weiter. Eindringlich spiegelt das die aufgebrezelte Dame, die mit ihrem Dackel durch die Trümmer stolziert. Die Ruine des "Haus Vaterland", die wie ein Gerippe die Kulisse zu den wenigen Menschen und den beiden Autos auf Europas einst verkehrsreichstem Platz, dem Potsdamer Platz, bildet, wirkt bedrohlich. Die 1949 entstandene Aufnahme gibt ein bedrückendes Bild von den Wunden, die der Krieg nicht nur in die Architektur geschlagen hat.
Menschen machen Geschichte. Kilian dokumentiert das eindringlich. Die Einsamkeit des Kriegsheimkehrers, der 1946 auf Krücken gestützt, ein altes Akkordeon und einen Blechbecher in der Hand, auf den Kölner Domes blickt, ist schier unerträglich. Wie zwei drohende Finger erheben sich die dunklen Türme über den Schutt. Kilian selbst hätte das Schicksal des Mannes ereilen können, der offenbar nicht nur seine körperliche Gesundheit, sondern auch alle sozialen Bezüge durch den Krieg verloren hat. Kilian wurde selbst schwer verwundet.
Die lachende Trümmerfrau dagegen, die mit einem Hammer einen Ziegelstein abklopft, strahlt in ihren übergroßen Arbeitsschuhen den reinen Optimismus aus. So viel Tatkraft, so viel Zuversicht. Im Rückblick macht ihre Erscheinung es umso absurder, dass verheiratete Frauen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik ihre Ehemänner um Erlaubnis bitten mussten, wenn sie arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen wollten. Kilian versperrte nicht die Augen vor den Schatten im Wirtschaftswunderland. Die "Währungsreform", die über Nacht die Geschäfte mit Konsumgütern füllte, verwandelte längst nicht für alle das Land in ein Einkaufsparadies. Für die Frau, die mit leerem Gesicht in ein Schaufenster blickt, scheinen die ausgestellten Delikatessen nicht erschwinglich zu sein. Soziale Ungerechtigkeit war ebenso sein Thema wie die Bedrohung durch den Kalten Krieg. Als die Sowjets 1948 sämtliche Zufahrtswege nach Berlin blockierten, versorgten die West-Alliierten die Stadt über eine Luftbrücke. Kilian hielt die "Rosinenbomber" aus wenig bekannter Perspektive beim Landeanflug fest.
Doch er hatte sie immer im Blick, die Schönheiten. Die Natur, wie sie sich, noch unberührt vom Massentourismus, 1950 dem Italienreisenden offenbarte. Und die Kultur. Sehnsuchtsvoll blickt der Maler Otto Dix 1961 über den Untersee in Hemmenhofen. In seinem weißen Anzug, das Gesicht in die Ferne gewandt, erinnert die Aufnahme an ein Gemälde der Romantik.
Kilian liebte nicht nur die Nacht. Er liebte auch das Helle und Schöne. Und er liebte das Ballett. Einzigartig sind seine Aufnahmen aus den Inszenierungen des Stuttgarter Ensembles unter der Leitung von John Cranko. Kilian war ein Meister im Festhalten der Bewegung. Nicht nur der inszenierten.
Hannes Kilian - Fotografien. 4. April bis 29. Juni, Martin-Gropius-Bau Berlin