Berliner Merkwürdigkeit

37 Jahre am Stück geöffnet

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Jenni Roth

Es ist zehn Uhr morgens, auf einer abgewetzten Holzbank sitzt eine Gruppe älterer Männer, sieben an der Zahl, bärtig, mit Baskenmütze, sie lachen im Bass und löffeln Suppe aus Silberschalen. Sie machen Pause, Frühstückspause am Bau, mit ihrer Lammkopfsuppe und essen Fladenbrot dazu.

Nur einer hat sich für Pansensuppe entschieden, mit Petersilie und Knoblauch. Das isst man so in der Türkei.

Die Bauarbeiter sind Türken, doch sie sind nicht in der Türkei, sondern im Herzen von Kreuzberg, im Restaurant Hasir, irisch-grüne Fassade, dunkelroter Baldachin. Rechts daneben der Laden von Tekmer Lebensmittel, und auf der Linken verkauft Beytur seine Reisen. Etwa 100 Meter weiter zeigen die weißen und gelben Platten des Kottbusser Tors ihr verwaschen-tristes Gesicht. Ein Mann in weißer Schürze schabt hinter dem Fenster Fleisch vom Spieß, er ist noch rund und breit um diese Zeit, das fertig geschnippelte Gemüse ganz frisch, und davor laufen Menschen in der Adalbertstraße geschäftig auf und ab, es ist laut, Stimmengewirr aus Türkisch, Deutsch und Arabisch vermischt sich mit Motorenlärm und dem Zittern der Presslufthämmer.

Drinnen klappert der Koch mit Besteck, brutzelt den Spieß auf dem Grill, im Radio läuft türkische Musik, und dann folgen die Nachrichten. "Es ist fast wie zu Hause", sagen die Gäste, und sie sind auch fast immer hier, auf alle Fälle jeden Morgen.

Aber das Lokal ist auch zu anderer Zeit stets voll besetzt. Morgens ab vier kommen die Arbeiter, um sieben die nächsten, dann kommt das Rentnerpaar zum süßen Frühstückstee, der Mann mit angegrautem Haar, die Frau mit Tuch und Einkaufstasche aus blauem Plastik. Dann kommen die Arbeiter zur Mittagspause, später holt sich der Künstler seinen Döner für zwei Euro oder 2,50, am Abend kommen die Herren aus der Nachbarschaft zum geselligen Kartenspiel. Am Wochenende taucht auch mal eine Hochzeitsgesellschaft auf, nur zum Tanzen reicht der Platz nun wirklich nicht, das wissen die Leute, sie tanzen vor dem Hasir oder danach. So wie die Kreuzberger Partygänger, die mit einem deftigen Döner die Grundlage für einen süffigen Abend legen, irgendwann später kommen sie wieder, gegen zwei vielleicht oder drei, trinken Raki und Bier, und ab vier stehen dann wieder die Arbeiter vor der Tür. Nur wenn einmal kurz eine Lücke entsteht, dann greift Hakan Sari, der "schon immer" hier arbeitet, zum Besen, und kehrt die Fußkrümel fort.

Das Hasir schläft nie. Es ist wohl das einzige Restaurant in Berlin, das seit 1971 ununterbrochen geöffnet hat.

Mehmet Aygün war ein paar Jahre zuvor nach Berlin gekommen, und half als Gastarbeiter erst einmal bei einem Bekannten im Dönerladen aus. Die typisch türkischen Sitzecken aus geflochtenem Korb brachten ihn auf die Idee, in seiner Sprache heißen sie "Hasir". So nannte er dann auch sein neues Lokal. Mit ihm hat er den Döner quasi erfunden, oder doch zumindest neu erfunden. Im Laufe der Jahre hat der Familienbetrieb fleißig für Nachwuchs gesorgt, es gibt das Hasir in Mitte, Schöneberg, in Wilmersdorf und Spandau.

Und seither schläft auch Mehmet Aygün fast nie. Neben den Restaurants in Berlin gehört ihm das Titanic-Hotel in Antalya, das aussieht wie ein Schiff, und fünf weitere in Istanbul. Wenn er gerade nicht vor Ort ist in Berlin, kümmern sich die Brüder um einen reibungslosen Betrieb. Und es läuft, sogar am 1. Mai, wenn vor den Fenstern Autos in Flammen aufgehen und die Randale beginnt. Es ist nie viel passiert im Hasir, denn es war ja immer jemand da, immer wer, der aufpasste.

An der Wand hängen Bilder, gerahmt, mal schief und mal gerade. Darauf posiert stolz der Chef mit Filmemacher Fatih Akin auf dem einen, mit dem ehemaligen türkischen Präsidenten Mesut Yilmaz. Auf dem nächsten sieht man den Rapper Cesar mit Döner, Barbara Schöneberg, Joschka Fischer und Claudia Roth. Die CDU ist immerhin durch Günther Beckstein vertreten, der auch das Adrette liebt.

Auf jedem Tisch stehen drei gelbe Fläschchen mit Zitronensaft, akkurat aneinander, daneben dünne Papierservietten, weiß, aus einem Spender, ein Salzstreuer und einer mit Pfeffer. In der Auslage liegt Milchreis in Tonschalen, sieht aber aus wie Crème brulée und darunter Tiramisu. "Nein, kein Tiramisu!", ruft Hakan empört, "das ist türkischer Pudding!" Alles ist hier Original türkisch, die blau bemalten Fliesen an der Wand, die kleinen geschwungenen Gläser für den Tee. Krisen kennt man hier nicht, vielleicht gingen ein paar Döner weniger über die Theke, als in Deutschland eine Zeit lang nur noch Gammelfleisch zu haben war oder die Menschen das zumindest fürchteten: "Wir haben ja unserer Stammkundschaft, die uns vertraut."

Dem Hasir geht es blendend und auch Mehmet Aygün, der jetzt 52 Jahre alt ist. Und doch sah es zwischendurch ganz so aus, als wäre sein Ende gekommen. Eine Zeitung meldete im Januar: "Berliner Döner-Erfinder tot!" Doch die Freunde der beliebten Fleischtasche waren schnell wieder beruhigt, und das kam so: In einem Kreuzberger Altenheim war ein 87-Jähriger verstorben, Mahmut Aygün. Mehmet Aygün aber ist quicklebendig.