Medizin

Sie hat ein Problem mit Ihrem Telefon

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Marco Lauer

Die letzten Häuser bleiben zurück. Wiesen, Wald, der Handyempfang wird schwächer. Es ist der Weg ins Glück von Suzanne Sohmer. Acht Kilometer lang ist dieses Glück und drei Kilometer breit. Ein idyllisches Stück Erde in der Nähe von Oberammergau.

* Durch ihr Glück fließt ein Bach, den sie "einen ganz lieben Bach" nennt. Es gibt Kühe und Pferde. Keine Menschen. Das ist wichtig. Denn die tragen mit statistisch fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit ihren großen Feind bei sich: das Handy. Sohmer gehört zur Gruppe der Elektrosensiblen. Etwa sechs Prozent der deutschen Bevölkerung reagieren mit starken körperlichen Symptomen, wenn sie hochfrequenter Strahlung ausgesetzt sind. Jener für den Empfang von Digitalfernsehen oder für Navigationsgeräte - vor allem aber: für Mobilfunk.

Kommt jemand mit einem eingeschalteten Handy Suzanne Sohmer zu nahe, wird es kritisch. Dann wird ihr schwindelig, der Blutdruck schießt auf 200 zu 110, sie sieht alles wie volltrunken und in den Ohren rauscht es, als stünde sie neben den Niagara-Fällen. "Glücklicherweise habe ich hier einen kleinen Ort gefunden, an dem ich immer ganz alleine bin", sagt sie, "auch an den Wochenenden." Bei ihrer vorigen Zuflucht musste sie jedes Mal bitten, die Handys auszuschalten. Was auch sinnvoll war, es gab ohnehin kein Signal.

In Deutschland werden solche Funklöcher immer seltener. Schließlich ist es für Vodafone, O2, E-Plus und T-Mobile wichtig, wie groß ihre Netzabdeckung ist. Die liegt laut Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) mittlerweile bei 99,1 Prozent. Damit ist die Fläche aller Funklöcher zusammengenommen nur noch wenig größer als das Saarland. Doch auch die letzten Lücken im engmaschigen Funknetz wollen die Mobilfunkbetreiber in den nächsten Jahren schließen und versprechen den Kunden das Ziel: 100 Prozent. Tiefe Täler sollen dafür noch erschlossen werden. Und entlegene Landstriche wie jenen, in dem Suzanne Sohmer lebt, und dessen genaue Lage sie nicht beschrieben haben möchte. Weil der Feind sonst Bescheid weiß. Der rückt sowieso schon immer näher heran an ihr Glück.

Seit über zwei Jahren lebt Sohmer, 49, fransiges Haar ohne Frisur, wässrige Augen, im Nichts, das für sie alles ist. In einem Wohnmobil, mit dem sie früher Ausflüge in die Welt außerhalb der Funklöcher unternommen hat. Im Mai dieses Jahres kam sie hierher, zuvor war sie schon an zwei anderen Plätzen. Die dann verseucht worden seien, sagt Sohmer.

Einer internen Studie des BfS zufolge sind mittlerweile etwa 25 000 Elektrosensible wie Sohmer quer durch die Republik unterwegs. Auf der Suche nach Funklöchern. Auf der Flucht vor dem technischen Fortschritt. Bei dem Fluch und Segen seit jeher eng beieinander liegen. Das war beim Auto so, beim Flugzeug - und das ist beim Handy nicht anders. Erst wurde die Fortbewegung mobilisiert und dann die Kommunikation. Mit vielen Gewinnern und einigen Verlierern, zu denen sich Suzanne Sohmer zählt. Deswegen auch ist sie Mitglied in einer der Hunderten Bürgerinitiativen in Deutschland, die sich dem Kampf gegen den so genannten Elektrosmog verschrieben haben. Jene in Oberammergau ist dabei bundesweit eine der bekanntesten.

Man traut dem oberbayerischen Städtchen eigentlich nicht zu, dass sich dort die Stimme der deutschen Mobilfunkgegner befindet. Idyllisch liegt es im Süden Bayerns, eingebettet in die Voralpen. Nur einen gewissen Hang zur Darstellung des Leids hatte man hier schon immer. Bei den weltberühmten Passionsspielen werden von den Dorfbewohnern in sechs Stunden die letzten fünf Tage Jesu nachgespielt. Und jeder zweite Laden verkauft Schnitzereien, die hauptsächlich Jesus am Kreuz zeigen.

Viel weniger offensichtlich allerdings sind die Leiden der Opfer von Mobilfunkstrahlung, sagt man zumindest bei der Bürgerinitiative "Strahlenfreier Ammergau," die Werner Funk in Oberammergau gegründet hat, der ehemalige Geschäftskollege Suzanne Sohmers, als beide bis vor vier Jahren noch zusammen beim Wetterdienst arbeiteten.

"Man riecht nichts von der Strahlung und schmeckt auch nichts", sagt Funk. Weil es eben kein Sinnesorgan für Strahlung gebe. Trotzdem ist er sich sicher, dass die Symptome der Betroffenen auf die Handystrahlung zurückzuführen sind.

Das aber sei vor allem die Angst vor der Angst. Sagt man bei der beim Forschungszentrum für Elektro-Magnetische Umweltverträglichkeit (FEMU) in Aachen. Bis heute sei kein eindeutiger Zusammenhang gefunden worden zwischen Handystrahlung und schweren körperlichen Leiden. Obwohl man dort in einem groß angelegten Forschungsprojekt über 7000 wissenschaftliche Studien durchforscht habe und auch viele Feldversuche mit so genannten Placebo-Antennenmasten. Wobei auf Wohnhäuser wie auf öffentliche Gebäude Funkmasten installiert wurden. Prompt gingen Klagen ein über Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Herzrasen. Obwohl zu dem Zeitpunkt die Antenne bewusst noch nicht eingeschaltet war.

Im kleinen Zorneding bei München, 120 Kilometer entfernt von Oberammergau, sitzt Birgit Stöcker, eine blasse Frau von 63 Jahren, am Tisch ihres Reihenhauses und sagt: "Ich bin sensibler als ein Messgerät." Das steht bei der Autorin des Buches "Elektrosmog - eine reale Gefahr" trotzdem immer auf dem Tisch. Für den Besucher schaltet sie das Breitbandmessgerät Modell "Lambda Fox" ein. Ein lautes Rauschen ist zu hören, das übergeht in ein stakkatoartiges Knacken in hoher Tonlage. "Hören Sie das?", fragt sie. "Das ist vom Handy nebenan. "Da wird gerade telefoniert." Sie schaltet das Gerät wieder ab und seufzt. Die kurzen, stetigen Impulse wirkten bei ihr wie ein Hackbeil, das in ihr Hirn schlägt, sagt sie.

Sie lächelt ein wenig: "Wir Elektrosensiblen haben ja das Glück, dass wir die Strahlung wenigstens noch spüren." Und sagt danach: "Die es nicht spüren, also die Mehrheit, sind doch die armen Schweine."

Trotzdem aber würde die elektrosensible Minderheit oft nicht ernst genommen, sagt Stöcker, die Vorsitzende des Bundesverbandes "Elektrosmog e.V".

Tatsächlich gibt es bis heute keine öffentlich anerkannte Studie, die den direkten Zusammenhang zwischen der elektromagnetischen Strahlung der Handys und schweren körperlichen Beschwerden oder gar Krebs und Gehirntumoren herstellt. Viele dieser Studien würden ja auch mitfinanziert oder zumindest gesponsert werden von den großen Mobilfunkbetreibern, sagt Birgit Stöcker. Und Werner Nording, Pressesprecher bei BfS bestätigt: "Die Kosten dafür werden immer hälftig aufgeteilt zwischen Bundesregierung und den Betreiberfirmen." Einflussnahme deswegen würde aber nicht genommen. Das wäre ziemlich naiv. "Sonst könnten wir das ja gleich bleiben lassen", sagt Nording Die Unabhängigkeit der Forscher müsse sogar vom Staat zertifiziert werden. Und außerdem könne den Betreiberfirmen auch nicht daran gelegen sein, wenn heraus käme, dass die Ergebnisse von ihnen manipuliert seien.

Für die aktuelle Studie der Bundesregierung, die im Juni, wurde sechs Jahre lang geforscht, gemessen und getestet. Sigmar Gabriel fasste auf der Bundespressekonferenz das Ergebnis zusammen: "Dieses breit angelegte Forschungsprogramm hat bestehende Befürchtungen zu möglichen Gesundheitsgefahren des Mobilfunks, die es in Teilen der Bevölkerung gibt, nicht bestätigt."

Birgit Stöcker überzeugt das nicht. Doch was viel wichtiger ist: Es hilft ihr nicht. Sie kämpft seit 13 Jahren schon gegen das Handy. Gegen die Wirtschaft, die Politik, aber auch gegen die Gedankenlosigkeit der Nutzer. Oder der Eltern, die ihren Kindern "diese Geräte" schon zu ihrem 12. Geburtstag schenkten, ohne sich über die langfristigen Folgen klar zu sein.

Ihre persönliche Offensive gegen das Handy und seine Strahlen ist der Rückzug. Zum Einkaufen geht sie so selten wie möglich. Ihr Reihenhaus, "das ich nach 30 Jahren endlich abbezahlt hab", bewohnt sie nur noch im Keller. Zu sehr dringt die Strahlung von den Nachbarn links und rechts in Wohn- und Schlafzimmer. Links und rechts von ihr ist der Rasen gemäht, während ihrer kniehoch steht. Die Gartenmöbel, die früher draußen auf der Terrasse standen, stehen jetzt unten im Keller. Besucher werden durch einen kleinen Aufkleber auf der Haustüre gewarnt, auf dem ein rot durchgestrichenes Handy zu sehen ist. "Ein schöner Zustand ist das nicht", sagt sie, "aber was soll ich machen?" Sie könne nur weiterkämpfen gegen neue Funkmasten und ihre Idee vorantreiben, funkfreie Reservate für jedes Bundesland durchzusetzen. Um Elektrosensiblen ein menschenwürdiges Dasein zu gewähren. Und damit ihre zwei kleinen Enkel unbeschwert aufwachsen könnten. Der eine von beiden sei mit einem schweren Herzfehler auf die Welt gekommen, weil keine 30 Meter vom Haus ihrer Tochter ein Mast stehe.

Auch im Refugium von Suzanne Sohmer steht das Messgerät "Lambda Fox" immer griffbereit. Es ist so etwas wie das Erkennungszeichen der Elektrosensiblen. In den ersten Tagen war Sohmer damit unterwegs, um die Grenzen ihres neuen Glücks auszuloten.

Viele haben sich abgewendet von ihr, seit sie dieses Leben führt. Halten sie für eine Spinnerin mitsamt ihren Elektrosensibelchen. Und die Behörden beriefen sich sowieso nur auf ihre einschlägigen Studien wie eben jene vom Juni dieses Jahres. Die im Grunde aufs Neue besagt, dass ihre Leiden am besten von einem Neurologen oder noch besser Psychiater zu beheben wären. Und so lange sie da nicht hingeht, hätte sie auch keinen Anspruch auf Frühverrentung mit ihren 49 Jahren.

Aber da wird sie nicht hingehen. Sagt sie. Und ihre leise, verhuschte Stimme wird zum ersten Mal etwas lauter. "Das ist ja, wie wenn Sie ein kaputtes Auto zum Bäcker bringen wollen. Elektrosensibilität ist eine körperliche Krankheit." Die viele Ärzte ignorierten, weil viele Ärzte bei Mobilfunkbetreibern Fortbildungskurse machen, was dasselbe wäre, als wenn Marlboro Lungenfachleute weiterbilden würde.

Nicht so Gerd Oberfeld. Der Umweltmediziner aus Salzburg will in diversen Versuchen festgestellt haben, dass elektromagnetische Felder zu einer erhöhten Bildung freier Radikaler führen. Dadurch würden gesunde Zellen angegriffen, was bis hin zu Tumoren führen könne. Außerdem, sagt der 48-Jährige, sei nachgewiesen, dass erhöhte Mobilfunkstrahlung zu einer verminderten Produktion des Stoffes Serotonin führen würde, gemeinhin bekannt als "Glückshormon." Zu wenig Serotonin fördert in der Folge Depressionen und dauernde Müdigkeit. "In Deutschland will das bloß keiner wahrhaben", sagt er. Dabei sei doch bezeichnend, dass zum Beispiel in Schweden die Elektrosensibilität offiziell anerkannt sei: "Elektrosensible bekommen dort sogar einen Behindertenausweis und bekommen eine Berufsunfähigkeitsrente."

Suzanne Sohmer ist davon noch weit entfernt und so ist die Wut momentan das einzige, was sie mit der Außenwelt verbindet. Ansonsten lebt sie hier in ihrer eigenen Welt. Tagein, tagaus ein ruhiges Leben in friedlicher Natur. Steht auf um acht, schreibt an ihrem Roman, in dem sie sich und ihre Geschichte nur als "Randfigur" neben einer heldenhaften Protagonistin einflechten möchte. Sammelt Pilze, streift durch den Wald. Kommuniziert auf altem Wege, per Brief, mit ihren Mitstreitern in der ganzen Bundesrepublik. Darüber, wie ein aktueller Gerichtsstreit über einen neuen Funkmasten ausgegangen ist oder ob jemand neue Funklöcher entdeckt hat oder bestehende verschwunden sind.

Alle paar Wochen schneidet sie sich selbst die Haare, weil sie "jeden unnötigen Gang in den verseuchten Ort" vermeiden will. Weil jeder Gang die Hölle sei für sie. Ohne den Strahlenanzug, "an dem immerhin neunzig Prozent des Elektrosmogs abprallt", könnte sie den Weg hinein nach Oberammergau, meist zu ihrem Arzt, überhaupt nie bewältigen, sagt sie.

Ein riesiger blauer Overall, in dem die zierliche Frau verschwindet. Weil der Anzug ursprünglich auch nicht für sie gedacht war, sondern für die Mobilfunk-Techniker von T-mobile. Deren ausgemustertes Modell trägt Suzanne Sohmer. Vorne ist ein "HF-Protection" aufgestickt. HF für High Frequency. Wenn sie damit durch die Gassen von Oberammergau geht, halten sie zunächst einige für eine Imkerin. Und die meisten für eine Verrückte. Aber mittlerweile hat sie sich damit arrangiert. Deswegen auch nimmt sie ein bisschen gesellschaftliches Leben mit. Jede zwei Wochen geht sie essen in einem Landgasthof in der Nähe. Im Sommer kann sie draußen sitzen und im Winter bekommt sie einen separaten Raum. Beim Essen muss sie ihr engmaschig vergittertes Visier abnehmen, das sonst vor ihrem Gesicht hängt. Am liebsten isst sie Tafelspitz mit viel Meerrettich. Und danach einen Eisbecher. Dann geht sie schnell wieder. Zurück in ihr Glück, das ein Gefängnis in herrlicher Lage ist.