Lehrer und Eltern zweifeln Statistik der Bildungsverwaltung an – und legen eigene, deutlich höhere Zahlen vor

Unterrichtsausfall ist seit Jahren ein Thema, das Berliner Eltern aufregt. Viele klagen darüber, dass an der Schule ihrer Kinder immer wieder Stunden ausfallen, weil kompetente Vertretungslehrer fehlen. Der Verein Bildet Berlin, dem viele Lehrer angehören, und der Landeselternausschuss kritisieren jetzt, dass es noch schlimmer ist, als bisher angenommen. „In Berlin fällt doppelt so viel Unterricht aus, wie von der Bildungsverwaltung angegeben“, sagt der Vorsitzende des Vereins, Florian Bublys, der Berliner Morgenpost.

Die Statistik der Verwaltung sei schöngerechnet. „Wir sagen, mindestens 400.000 Stunden haben den Begriff ‚Vertretung‘ nicht verdient“, so Bublys. Diese Stunden würden nicht fachgerecht vertreten oder fänden gar nicht statt, weil die Schüler mit Aufgaben nach Hause geschickt würden. Bildet Berlin beruft sich auf Zahlen der Bildungsverwaltung aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage des SPD-Abgeordneten Joschka Langenbrink vom 10. Dezember 2014.

Lehrer und Eltern fordern jetzt eine Vertretungsreserve von zehn Prozent. „Das sind etwa 2800 Lehrkräfte zusätzlich“, sagt Bublys. „Die Schüler brauchen eine Unterrichtsgarantie.“ Nur wenn die gewährleistet sei, könnten sie so gut wie möglich auf den Abschluss vorbereitet werden. Die Forderung nach einer 110 prozentigen Ausstattung der Schulen mit Personal sei nicht neu. „Bisher hat sich aber wenig getan“, sagt Bublys.

Eine Frage der Betrachtung

Laut Statistik der Bildungsverwaltung fallen seit 2011/12 pro Schuljahr etwa 405.650 Unterrichtsstunden aus, das sind 2,1 Prozent aller Unterrichtsstunden. Bildet Berlin und Landeselternausschuss haben jedoch ermittelt, dass mindestens 800.000 Unterrichtsstunden ausfallen. „Rechnet man dann noch die 800.000 Stunden hinzu, die vertreten werden, indem Teilungs- und Integrationsstunden aufgehoben und Klassen zusammengelegt werden, sind es jährlich 1,6 Millionen Stunden, die nicht ordentlich vertreten werden“, sagt Bublys. In einem Zeitraum von zehn Jahren ergebe das ein Schuljahr, dass nicht regulär erteilt werde.

Der Verein Bildet Berlin beruft sich bei seiner Berechnung auf die „Ausfüllhinweise zum Unterrichtsausfall und Vertretungsunterricht der Lehrkräfte“ der Bildungsverwaltung, auf deren Grundlage die Schulleiter Unterrichtsausfall und geleistete Vertretungsstunden Woche pro Woche dokumentieren müssen. Diese Anweisungen seien eine Anleitung zum Mogeln, kritisiert der Verein. Demnach würden Unterrichtsstunden nicht nur dann als tatsächlich vertreten gelten, wenn ein Vertretungslehrer die Stunden erteile, sondern auch dann, wenn Teilungsstunden aufgehoben oder Klassen zusammengelegt würden oder wenn die Schüler Aufgaben bekämen, die sie selbstständig lösen müssen.

Auch wenn es zu einer sogenannten Ringvertretung kommt, sollen die Schulleiter in ihrer Statistik keinen Ausfall angeben, sagt Bublys. „Dabei fällt aber oft Unterricht aus.“ Ein Beispiel: Ein Mathematiklehrer ist krank und kann in einer Klasse die dritte Stunde nicht geben. Dann ist es möglich, beispielsweise den Deutschunterricht aus der sechsten in die dritte Stunde zu verlegen. Bei einer solchen Regelung wird in der Statistik kein Unterrichtsausfall vermerkt. „Die dritte Stunde wird dann zwar vertreten. Aber Mathematik wird trotzdem nicht gegeben“, so Bublys. Mit all diesen Maßnahmen rechne sich Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Statistik schön, kritisiert er.

Beate Stoffers, Sprecherin der Bildungssenatorin, sagt der Berliner Morgenpost, dass die Bildungsverwaltung eine klare Definition von Unterrichtsausfall habe. „Wir sprechen nur dann von Ausfall, wenn Stunden tatsächlich nicht vertreten werden können.“

Wenn man aber andere Definitionen verwende, bekomme man auch andere Zahlen, sagt Stoffers. Es gebe in der Öffentlichkeit immer wieder andere Auffassungen darüber, was als Unterrichtsausfall gewertet wird und was nicht. So würde bereits oft die Tatsache, dass Stunden vertreten werden müssen, als Ausfall gewertet werden, weil man meine, dass doch der eigentliche Stundenplan nicht eingehalten wurde.

„Dabei gehen natürlich im Idealfall zum Beispiel sogar solche Tatsachen verloren, dass heute Mathe durch Bio vertreten wird und in einer Woche Bio durch Mathe und damit der Stundenplan rückwirkend wieder hergestellt wurde“, sagt Stoffers. Außerdem müsse auch berücksichtigt werden, dass bei unklaren Fragestellungen an Schulen auch unterschiedliche Antworten von den Schulen zum gleichen Sachverhalt die Folge sein können.

Zeugnis ohne Bewertung

Der Vorsitzende des Landeselternausschusses, Norman Heise, spricht trotzdem von einer Verschleierungstaktik der Bildungsverwaltung und macht dies an einem Beispiel fest. An der Schule seines Sohnes, einer Grundschule in Marzahn-Hellersdorf, falle in einer sechsten Klasse seit Monaten der Englischunterricht aus, sagt er der Berliner Morgenpost. „Zum Teil wird zwar fachfremd vertreten, die Schüler haben aber trotzdem seit Monaten keinen Englischunterricht, so dass das Fach auf dem Zeugnis ohne Bewertung bleiben wird“, sagt Norman Heise. Das zeige deutlich, dass eine fachfremde Vertretung oft nicht weiterhelfe und negative Auswirkungen auf die Schüler nicht verhindern könne. Ralf Treptow, Vorsitzender der Vereinigung der Oberstudiendirektoren, schließt sich der Forderung nach einer besseren Personalausstattung der Schulen an. „Als Praktiker gebe ich aber zu bedenken, dass das Problem der fachfremden Vertretung von Unterricht auch mit mehr Personal nicht gänzlich gelöst werden kann“, sagt er der Berliner Morgenpost. Selbst wenn Vertretungsreserven da wären, würde das nicht unbedingt dazu führen, dass in jedem Fall fachgerecht vertreten wird. „Wenn der Lehrer, der die Vertretung übernehmen kann, kein Lateinlehrer ist, kann er Latein nicht fachgerecht vertreten.“