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Schocktherapie im Unfallkrankenhaus

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Laura Réthy

Mit drastischen Beispielen sollen Jugendliche mit den Risiken durch Alkoholkonsum und Selbstüberschätzung konfrontiert werden

Die junge Frau mit dem schwarzen Haar schläft tief. Schon seit Mitte April hat sie ihre Augen nicht mehr geöffnet. Über ihre rechte Schläfe zieht sich eine kleine Wunde, sonst wirkt sie unversehrt. Doch der dicke grüne Schlauch, der direkt durch einen Schnitt in der Luftröhre in ihren Hals mündet und kontinuierlich Sauerstoff zuführt, erzählt eine andere Geschichte. Er hält ihren Körper in seinem Tiefschlaf am Leben.

Die Frau weiß nicht, dass in einem anderen Krankenhaus ihre kleine Tochter und ihr Mann liegen. Sie weiß auch nicht, dass sich eine Gruppe Schüler um ihr Bett gereiht hat und sie unverwandt anblickt. Es riecht nach frisch desinfizierten Händen. Kein Kichern, kein Flüstern, nur Blicke. „Was wollt ihr noch wissen?“, fragt der Arzt in die Runde. Zaghaft hebt sich eine Hand. „Wird sich die Frau an den Unfall erinnern können, wenn sie wieder aufwacht?“, fragt ein Schüler. Das wisse man vorher nie so genau, sagt der Arzt. „Hat sie dann nicht Angst, wenn sie wieder aufwacht, wegen all der Schläuche?“, fragt ein Junge.

Die 30 Schüler der neunten Klassenstufe der Georg-Klingenberg-Schule sind an diesem Dienstag zum ersten Berliner P.A.R.T.Y.-Tag ins Unfallkrankenhaus Berlin nach Marzahn gekommen. Was nach Verheißung und Spaß klingt, ist bitterer Ernst: Denn P.A.R.T.Y. steht für Prävention von alkohol- und risikobedingten Traumen bei Jugendlichen. Es soll eine Schocktherapie sein, um so jungen Menschen vor Augen zu führen, welche Folgen Alkoholkonsum und Mutproben vor allem im Straßenverkehr haben können. Eine kanadische Krankenschwester hatte sich das Programm bereits 1986 ausgedacht, nun hatte es in Berlin Premiere.

Keine Party ohne Alkohol

Obwohl die meisten der Schüler noch unter 16 Jahre alt sind, gilt wahrscheinlich für viele: keine Party ohne Alkohol. Die Zahlen sprechen dafür. So mussten 2011 wegen der Folgen von Alkoholkonsum 26.349 Jugendliche zwischen elf und 19 Jahren in Deutschland stationär behandelt werden. „Ich bin schon mal mit jemandem mitgefahren, der betrunken war“, sagt der 16-jährige Tobias. „Ich auch, aber wenn man diese Frau so gesehen hat, denkt man schon, dass es total dumm war, jemanden Betrunkenen fahren zu lassen“, sagt Brian. Der 15-Jährige hat sich freiwillig für die Schocktherapie angemeldet, weil er gerne wissen möchte, was alles unter Alkohol passieren kann.

Umso tragischer, dass die junge Mutter auf der Intensivstation nicht mal Opfer eines Autounfalls unter Alkoholeinfluss wurde. Sie saß auf dem Beifahrersitz, die Tochter auf der Rückbank, ihr Mann am Steuer. Plötzlich kam das Auto auf die Gegenspur ab und prallte mit 90 Kilometern pro Stunde frontal in ein entgegenkommendes Fahrzeug. Niemand weiß, was sein wird, wenn sie die Augen wieder öffnet. Die schweren Kopfverletzungen lassen vermuten, dass sie nicht mehr die sein wird, die sie war.

Den Ärzten, die an diesem Tag durch die verschiedenen Stationen des Unfallkrankenhauses führen, ist wichtig, deutlich zu machen, dass ein Unfall jedem jederzeit passieren und der Tag anders enden kann, als man es noch am Morgen erwartet hat.

Doch ihnen ist auch wichtig zu sagen, dass jeder etwas zu seiner Sicherheit beitragen kann. „Normalerweise kommen wir ins Spiel, wenn das Kind längst in den Brunnen gefallen ist“, sagt Oberarzt Gerrit Matthes. Doch mit Prävention lasse sich sehr viel erreichen, und je jünger die Menschen, desto einprägsamer.

Auf der nächsten Station wartet ein junger Mann. Linkes Schienbein gebrochen, doppelter Kieferbruch, zerstörtes Sprunggelenk. Zweimal war er auf der Intensivstation, vor Ende des Jahres wird er nicht wieder laufen können. Zwei Wochen sind in seiner Erinnerung komplett gelöscht. Er hebt sein T-Shirt an. Ein kleiner brauner Sack hängt an seinem Bauch. Auch der Darm wurde sehr schwer verletzt, als das Auto gegen einen Baum prallte. Nun hat er einen künstlichen Darmausgang. Der junge Mann ist 21 Jahre alt. Auch hier war wieder kein Alkohol im Spiel. „Was war für Sie das Schlimmste?“, fragt ihn die Pflegeleiterin. „Das Waschen“, sagt der Mann. Die Schwestern mussten ihn in der ersten Zeit in seinem Bett liegend mit feuchten Lappen waschen. Ihn, den erwachsenen, bis dahin kerngesunden Mann. „So gründlich sie das gemacht haben, man fühlt sich in der eigenen Haut einfach nicht wohl.“ Draußen sind die Rotoren eines Rettungshubschraubers zu hören.

Das P.A.R.T.Y.-Programm soll den Schülern auch zeigen, dass sie nicht unbesiegbar sind, dass sie verletzlich sind und dass sie Verantwortung für sich und ihr Handeln übernehmen sollen. „Das muss gar kein Autounfall sein. Stellt euch vor, ihr seid sehr betrunken“, sagt ein Rettungssanitäter. Einige Schüler grinsen. „Und stellt euch vor, ihr müsst euch übergeben. Ihr fallt um und atmet euer Erbrochenes ein. Daran könnt ihr sterben.“ Da grinst niemand mehr. Sie stehen jetzt im sogenannten Schockraum. In den werden Unfallopfer gebracht, die akut vom Tod bedroht sind. Während der Sanitäter erklärt, wird im Hintergrund eine neue Patientin gebracht. Blaue Vorhänge werden vorgezogen, damit niemand zusehen kann, wenn vielleicht gerade ein Leben gerettet wird. Brian hebt den Arm. „Ist hier schon einmal jemand gestorben?“, fragt er. „Ja, ständig“, sagt der Sanitäter.

„Das finden die nicht bedenklich“

In Berlin sind im vergangenen Jahr 37Menschen im Verkehr gestorben. Insgesamt gab es 131.000 Verkehrsunfälle, 1421 davon unter Alkoholeinfluss. 2012 starben in Deutschland 113 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren im Autoverkehr, 19.023 junge Menschen verunglückten insgesamt. Drastische Zahlen, doch damit erreicht man Jugendliche selten.

Das merkt auch Katja Neidel immer wieder. Die Lehrerin an der Georg-Klingenberg-Schule versucht, mit ihren Schülern über das Thema Sucht und Risiken zu sprechen. „Die Schüler können damit überhaupt nichts anfangen.“ Sie erzählt von Schülern, die morgens nichts zur Schule erscheinen, weil sie am Abend zuvor zu viel getrunken haben. „Aber das finden die nicht bedenklich“, sagt die 35-Jährige.

Zum Nachdenken bringe die Schüler auch kein blutiges Unfallszenario, sagt Oberarzt Gerrit Matthes. „Es ist die menschliche Komponente.“ Die bringt zum Schluss noch einmal Oliver Kuckuk mit. Seit seinem 16. Lebensjahr sitzt er im Rollstuhl, weil sein Kumpel am Steuer des Autos eingeschlafen war. „Wollten Sie manchmal nicht mehr leben?“, fragt ein Schüler. Der 35-jährige Oliver Kuckuk nickt: „Ja.“