Serie: Nachts in Berlin

Marlene, das Wunder der Nacht

| Lesedauer: 10 Minuten
Regina Köhler

Auf der Entbindungsstation gibt es keine Tage und Nächte. Nur Zeiträume, lang, kürzer, hektisch. Doch das ist egal, denn was am Ende zählt, ist allein das Wohl der Neugeborenen

Aus Zimmer 205 dringt klägliches Schreien. Seit zwei Stunden schon. So lange ist Marlene bereits auf der Welt – geboren am 4. Oktober um 23.07 Uhr im Krankenhaus Waldfriede. Das kleine Mädchen musste mit einer Saugglocke geholt werden, weil die Geburt einfach nicht voranging. Sauerstoffmangel drohte. Für Marlene eine traumatische Erfahrung. Hinzu kommt der Schmerz. Auf ihrem Köpfchen hat sich eine große, blutunterlaufene Beule gebildet. Das ist normal bei einer solchen Geburt und in einigen Wochen wieder verschwunden. Doch jetzt tut es weh. Marlene schreit.

In dieser Nacht haben Eva und Gaby Dienst auf der Entbindungsstation des Zehlendorfer Krankenhauses, zwei erfahrene Krankenschwestern. Sie haben viel zu tun. Erst um 4.30 Uhr werden sie eine kurze Pause machen können.

Jeder Handgriff wird dokumentiert

Es ist kurz vor eins. Eva hat bereits einiges unternommen, um die schreiende Marlene zu beruhigen. Sie hat die Kleine ihrer Mutter auf den nackten Bauch gelegt, Hautkontakt beruhigt die Neugeborenen oft. Sie hat dafür gesorgt, dass Marlene gestillt wird. Und sie hat ihr sogar schon ein Kügelchen Arnika gegeben. Ohne Erfolg.

Im Schwesternzimmer beratschlagt Eva mit ihrer Kollegin Gaby, was sie noch versuchen könnten, damit es Marlene besser geht. Sie sind mitten im Gespräch, als ein junger Mann zaghaft an die Glastür klopft, die das Zimmer vom Flur der Entbindungsstation trennt. Der Mann schiebt das Kinderbettchen mit seinem Sohn vor sich her. Kilian ist einen Tag alt. Er liegt ganz still und schaut mit großen Augen an die Decke. „Kann ich noch einmal beim Wickeln zusehen?“, fragt der junge Vater. Schwester Eva nimmt den Kleinen aus dem Bettchen und legt ihn auf den Wickeltisch. Mit sicheren Griffen zieht sie den Säugling aus. Dann zeigt sie dem Vater, wie er seinen Sohn am besten festhalten sollte. Und erklärt, dass die Windel unterhalb des Bauchnabels zugemacht werden muss. „Die restliche Nabelschnur darf nicht eingeklemmt werden. In ein paar Tagen fällt sie dann von selbst ab“, sagt Eva. Das Ganze dauert nicht länger als zehn Minuten. Zufrieden verlassen Vater und Sohn das Schwesternzimmer.

Eva setzt sich nun an den Schreibtisch und notiert in den großen Bogen, den sie für Kilian und seine Eltern angelegt hat, was sie dem Vater eben gesagt und gezeigt hat. Jeden noch so kleinen Handgriff müssen die Schwestern dokumentieren. Für jeden Patienten und auch für die Neugeborenen gibt es eine Akte. Das Krankenhaus verfilmt all diese Akten später. 30 Jahre müssen sie dann archiviert werden. „Das Dokumentieren umfasst mittlerweile einen großen Teil unserer Arbeitszeit“, sagt Eva. Sie macht das sehr ausführlich, damit jeder Ablauf, jede Entscheidung nachvollziehbar ist, falls Eltern später Nachfragen haben sollten.

Marlenes Schreien hat sich inzwischen zum Brüllen gesteigert. Um zwei Uhr greift Eva ein. Sie holt das Neugeborene in das Kinderzimmer der Station. „Marlenes Mutter ist tapfer, aber sie muss sich jetzt erst einmal ausruhen“, sagt sie bestimmt. Leise summend versucht sie dann das brüllende Kind zu beruhigen, dabei wiegt sie es in ihren Armen. Als auch das nicht hilft, legt sie das kleine Mädchen in den Inkubator. Das Wärmebettchen ist ein durchsichtiger Plastikkasten auf Rädern, in dem eine konstante Temperatur eingestellt werden kann. In diesem Fall sind es 33,3 Grad. Marlene rudert mit den winzigen Ärmchen und schreit weiter. „Wir müssen ihr Halt geben“, sagt Eva.

Für manche Kinder ist der Start ins Leben schwer. Neugeborene fühlen sich unmittelbar nach der Geburt manchmal völlig verloren. Ihnen fehlt die schützende Hülle, in der sie bisher lebten, diese enge Behausung, in der sie bei jeder Bewegung Grenzen spürten. Allein in ihrem Bettchen, sind sie plötzlich dem Nichts ausgesetzt. So muss es im Weltall sein: Dieses Große, Unendliche, Grenzenlose, das Angst macht. Schwester Eva rollt zwei Handtücher zusammen und legt sie rund um Marlene, die nun wie in einem Nest in ihrem Wärmebettchen liegt und sich langsam beruhigt. Es ist kurz nach 3 Uhr, als sie endlich einschläft.

Im Kinderzimmer der Klinik ist es nun still. Draußen auch. Nur ab und zu ist ein Auto zu hören, das die Argentinische Allee entlangfährt. Um drei Uhr melden die Nachrichten – der Pförtner des Krankenhauses hört sie in seinem Dienstzimmer – dass Bund und Länder sich in den nächsten Jahren heftig um Geld streiten werden, dass CDU und SPD Sondierungsgespräche führen, dass in den USA Republikaner und Demokraten sich nicht auf einen Haushalt einigen können. In Ägypten, heißt es, habe es wieder Ausschreitungen gegeben.

Vielleicht erfahren die Kinder, die in dieser Nacht auf die Welt gekommen sind, später einmal von den Dingen, die sich in den Stunden ihrer Geburt ereignet haben. Vielleicht vom Vater, der vor lauter Aufregung nicht schlafen konnte, den die Stimme im Radio beruhigen sollte. Vielleicht hat auch jemand eine Zeitung vom Geburtstag gekauft, um sie aufzuheben, bis das Kind sie selbst lesen kann. Oder es ist nie mehr davon die Rede, weil sich die Welt in so einem Moment nur um einen selbst dreht.

Im Schwesternzimmer sitzen Eva und Gaby jetzt nebeneinander am Schreibtisch, vor sich verschiedene Dokumentationsbögen. Kurzzeitig sieht es aus wie in einem Büro. Doch schon klingelt es wieder. In Zimmer 207 ist Hilfe gefragt. Eva springt auf und verlässt das Zimmer. Kurz darauf wird auch Gaby zu einer Patientin gerufen.

Eva kommt schon nach wenigen Minuten zurück. Sie hat sich gerade wieder an den Schreibtisch gesetzt, als eine junge Frau vor der Tür steht, neben sich das Bettchen mit ihren Zwillingen. Jaden und Josefine müssen gewogen werden. Eva winkt die Frau ins Zimmer, greift sich das Bett und schiebt es in Richtung Wickeltisch. Zum Glück ist auch Gaby wieder da. Nebeneinander stehen die Schwestern am Wickeltisch. Schnell sind die Kleinen ausgezogen, nacheinander werden sie auf die Wage gelegt. Jaden schreit kurz, ihm ist es in der Wiegeschale nicht geheuer.

Eva streichelt den Kleinen. Die Krankenschwester ist eine schöne Frau. Sie hat dunkelbraune, lockige Haare und freundliche Augen. Die können forschend schauen, aber auch zärtlich, wenn sie ein Kind ansehen. Ihre Hände sind schmal und kraftvoll. Wer Eva bei der Arbeit beobachtet, sieht, dass sie weiß, was sie tut. „Krankenschwester war schon immer mein Traumberuf. Ich mach das mit Leib und Seele“, sagt sie. Es sei vor allem die Arbeit mit den Menschen, die sie liebe. Aber auch die ständige Abwechslung, die dieser Beruf mit sich bringe.

Besonders gern arbeitet Eva nachts. Dieser Dienst ist etwas ganz Besonderes für sie. Tagsüber ist ständig etwas los. Immerzu klingelt das Telefon, Ärzte kommen und gehen, erteilen Anweisungen, Mütter stellen Fragen. „Nachts haben wir mehr Zeit für die Frauen, können uns intensiver um sie kümmern“, sagt Eva.

Jetzt weint Sofia. Das Mädchen ist zwölf Stunden alt und seit dem frühen Abend im Kinderzimmer der Entbindungsstation. Ihre Mutter hat die Schwestern gebeten, sich um die Kleine zu kümmern. Sofia hat bei der Geburt zu viel Fruchtwasser geschluckt und muss nun immer wieder spucken. Ihr kleiner Körper wird bei einer solchen Attacke von heftigen Krämpfen geschüttelt. Das Gesichtchen läuft rot an. Der Mutter macht das Angst. Die Schwestern bleiben gelassen. Eva nimmt die Kleine hoch und klopft ihr auf den Rücken. Als sie besonders heftig würgt, saugt sie ihr mit einem dünnen Schlauch Mund und Nase ab. Danach geht es Sofia deutlich besser.

Zeit für das Frühstücksbuffet

Es ist kurz vor halb vier Uhr. Eine junge Frau kommt ins Schwesternzimmer. Sie hat vor wenigen Stunden entbunden. Jetzt hat sie Schmerzen im Rücken, dort, wo noch der Zugang für die PDK (über den Periduralkatheter werden Schmerzmittel gegeben) liegt. Eva darf ihr diesen Zugang nicht entfernen. Sie muss einen Arzt rufen. Wer hat Dienst in dieser Nacht? Eva schaut nach und ist erleichtert. „Diese Ärztin ist nett und beschwert sich nie, wenn wir sie nachts holen müssen“, sagt sie.

Zehn Minuten später ist die Ärztin da, eine Frau Mitte vierzig mit kurzem dunkelblonden Haar und einer ruhigen warmen Stimme. Sie stellt einige sachliche Fragen und hört konzentriert zu, als Eva ihr von der jungen Frau erzählt. Dann nickt sie knapp, lässt sich die Zimmernummer sagen und wünscht den Schwestern noch eine gute Nacht. Schon ist sie wieder aus dem Zimmer.

Nun ist Zeit für das Frühstücksbuffet. Auch darum müssen sich die Nachtschwestern kümmern. Eva räumt die Geschirrspülmaschine aus und stellt im Frühstücksraum Tassen, Teller und Schüsseln auf drei Tische. Dazu Cornflakes, Marmelade und Butter. Später wird sie noch Tee und Kaffee kochen.

Diese Nacht ist bisher ruhig verlaufen. Kein Kaiserschnitt, keine Komplikationen. Das kann sich allerdings von einer Minute zur anderen ändern. Eva weiß das. Doch es sind genau diese Herausforderungen, die sie liebt an ihrem Beruf.