Serie: Wahl 2013

Auf der Suche nach dem Wir

| Lesedauer: 12 Minuten
Uta Keseling

Lange sah es aus, als habe die SPD die Wahl schon aufgegeben. Doch auf Berlins Straßen wird um jede Stimme gerungen. Ein Besuch

Die grellen Ladenschilder an der Kreuzung Residenz- und Amendestraße in Reinickendorf leuchten in der Sonne noch greller. Es ist zwölf Uhr an diesem Sonnabend, und hier soll der Wahlkampf beginnen. Woolworth, Pfennigland, 1-Euro-Shops. Hier ein Sonnenschirm der SPD, gegenüber einer der Grünen. Etwas weiter wartet ein junger Mann mit einer großen, roten Tasche, aus der er Faltblätter der Linken zieht. Ein Leierkastenmann untermalt die Szene mit einer Melodie: „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“. Dit is Berlin, so hört es sich an. Das hat wenig zu tun mit der lackierten Welt der Start-ups und Hipster in der Innenstadt.

„Nur die CDU fehlt, die sind sonst auch jeden Sonnabend da“, sagt ein SPD-Wahlkampfhelfer und ordnet die Prospekte von Peer Steinbrück neu an. Statt des SPD-Kanzlerkandidaten ist die Rückseite zu sehen. Die zeigt Jörg Stroedter, SPD-Direktkandidat im Wahlkreis 77, Reinickendorf-Ost. Daneben steht: „Das Wir entscheidet“.

Wer ist das „Wir“ in einer Partei, die seit Monaten vor allem durch rhetorische Fehltritte ihres Kanzlerkandidaten auffällt? In Berlin liegt die einstige „Arbeiterpartei“ in den Prognosen weit hinter ihren Ansprüchen. Zwar steigen Steinbrücks Umfrageergebnisse seit dem TV-Duell zwischen ihm und Kanzlerin Angela Merkel. Doch was bedeutet das schon auf Berlins Straßen?

Am SPD-Stand bleiben zwei ältere Herren stehen. Die Männer erzählen fast identische Geschichten. Der eine war Kfz-Werkstattmeister, der andere Chemiker. Der eine bekam einen Bandscheibenvorfall, der andere einen Herzinfarkt. Beide verloren die Arbeit, sind Ende 50, beide suchen seit Jahren vergeblich einen neuen Job. Beide sagen am Schluss denselben Satz: „Ich habe Angst, dass ich demnächst zum Sozialamt muss.“ Einem stehen die Tränen in den Augen, als er hinzufügt: „Ich schäme mich so.“

Andreas Höhne ist einer der Wahlkämpfer. Er hört sich die Lebensgeschichten geduldig an, fragt nach, gibt Rat. Er ist seit 2006 Sozialstadtrat von Reinickendorf. Höhne sagt, in Reinickendorf könne man zusehen, wie die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehe. Die sozialen Strukturen seien das wichtigste Thema. Eigentlich sei der Wahlkreis ein liebenswertes Viertel, er zeigt auf die Jugendstilbauten, auf die Menschen, eine bunte Mischung aus Jung und Alt mit unterschiedlichsten Wurzeln. Alle 90 Sekunden legt er im Gespräch eine Pause ein, wie sie es alle hier tun. Dann startet in Tegel der nächste Flieger. „Der Fluglärm ist das zweite große Thema, die Menschen leiden darunter“, sagt Höhne. Nur: In den Faltblättern der Bundespartei steht über solch lokale Themen natürlich nichts.

Im Bundestagswahlkampf 2009 ging Reinickendorf-Ost der SPD denkbar knapp verloren. Mit nur 58 Stimmen lag sie hinter der CDU. Höhne sagt, die Nichtwähler seien eine große Hoffnung der SPD. Einfach wird es nicht, sie zu überzeugen. Der Chemiker jedenfalls ist auch nach 15 Minuten Gespräch nicht entschieden. „Was Steinbrück sagt, klingt ja gut. Aber er kann das ja doch nicht umsetzen. Ich habe immer SPD gewählt, aber diesmal weiß ich nicht mehr, für wen ich mich noch entscheiden soll.“

Gut gelaunt in Friedrichshain

Am Petersburger Platz in Friedrichshain ist die Direktkandidatin nicht nur auf Plakaten zu sehen, sondern auch persönlich anwesend. Cansel Kiziltepe, eine zierliche Frau, steht in weißer Bluse und Jeans zwischen Hüpfburg und dem SPD-roten Wahlkampfstand. Sie hilft beim Aufbau eines Kinderfests. Es ist für die Kinder des Viertels gedacht, mit deren Eltern die SPD-Wahlkämpfer ins Gespräch kommen wollen.

Kiziltepes Team besteht aus jungen Leuten. Ihr Wahlkreis umfasst Kreuzberg, Friedrichshain und den südlichen Teil von Prenzlauer Berg – und ist seit 2002 fest in der Hand des Grünen-Urgesteins Hans-Christian Ströbele. Auch dieses Mal werde Ströbele wohl wieder gewinnen, sagt Cansel Kiziltepe, „aber zum letzten Mal“. Sie ist gut gelaunt und hat gute Chancen, auch über die Landesliste in den Bundestag einzuziehen. Auch am Petersburger Platz scheint die Sonne – und die ersten Besucher blättern schon in den SPD-Wahlprogrammen. Auch hier kommt Peer Steinbrück nur auf den Rückseiten der Flyer vor. In den Gesprächen geht es vor allem um Berlin.

Cansel Kiziltepe, 37 Jahre alt, steht mit ihrer Biografie beispielhaft für das neue Berlin – und für das Wahlprogramm der SPD. Diese hatte in Kreuzberg und nach der Wende auch lange in Friedrichshain die Mehrheit, bis die Grünen die „linken“ Themen übernahmen. Integration, Chancengleichheit für Menschen mit Migrationshintergrund und für Frauen, soziale Gerechtigkeit: Cansel Kiziltepe ist aufgewachsen im Wrangelkiez. Ihr Vater kam als Gastarbeiter. Die Tochter schaffte den Aufstieg, studierte Volkswirtschaft, jobbte während des Studiums in Friedrichshainer Kneipen. Heute arbeitet sie in Wolfsburg bei VW, in der Personalabteilung mit gutem Gehalt. Zur Politik kam sie über die Gewerkschaft Ver.di. Kiziltepe kandidiert zum ersten Mal für den Bundestag. Ihre Qualitäten nennt sie selbstbewusst selbst: „Ich bin freundlich, kompetent und kenne die Probleme der Menschen.“

Das Kinderfest sei eine Gelegenheit, auch mit potenziellen Wählern in Kontakt zu kommen, sagt sie. Themen sind steigende Mieten, soziale Verdrängung und die Renten. Seit Ende Juli ist Cansel Kiziltepe dafür unterwegs. „Viele Leute wundern sich, wenn eine Politikerin persönlich vor ihnen steht“, sagt sie. Viele erkennen sie von den Plakaten – und sind erst einmal neugierig. „Man sieht ja, dass ich nicht deutsche Wurzeln habe.“ Diese Neugier nutze sie für sich. Der persönliche Kontakt zwischen Wählern und Politik sei oft entscheidender als das, was in den Medien berichtet werde.

Auch das TV-Duell zwischen Merkel und Steinbrück hat sie öffentlich angeschaut, in einem Kreuzberger Gartenlokal, gemeinsam mit dem SPD-Landesvorsitzenden Jan Stöß. Trotz Regen waren die Tische bis auf den letzten Platz besetzt, berichtet sie stolz – „bis zum Schluss. Unter den Gästen waren viele unbekannte Gesichter.“ Der Beginn des SPD-Wahlkampfs sei zwar „etwas unglücklich verlaufen“, sagt sie diplomatisch. Das Duell habe aber Schwung in den Wahlkampf gebracht. „Steinbrück hat deutlich gemacht, für welche Themen wir stehen und dass ein Regierungswechsel wichtig ist.“

Wie mühselig Wahlkampf trotz allem sein kann, zeigt der weitere Verlauf des Kinderfestes. Vielleicht liegt es am Sonnenschein, vielleicht an den drei Großdemonstrationen, die zur selben Zeit in der Berliner Innenstadt stattfinden – das Kinderfest ist auch eine Stunde nach der Eröffnung nur spärlich besucht. Am Rand sitzen Biertrinker und Buchleser desinteressiert auf den Bänken. Die meisten Zuhörer hat eine Geschichtenerzählerin, die mit einer gebannt lauschenden Kinderschar die Vielfalt der Tierwelt erörtert.

In Schöneberg beginnt der SPD-Wahlkampf dermaßen ohrenbetäubend, dass selbst die Spitzenpolitiker nicht mehr zu Wort kommen. Ihr Team, erkennbar an roten SPD-T-Shirts, hat an der Pallas- Ecke Potsdamer Straße eine Bühne aufgebaut, auf der als Erstes eine afrikanische Band spielt. Es gibt Stände mit Broschüren, mit Speisen und Getränken. Auch hier sind die Kinder das verbindende Element. Sie stehen ebenso brav an für Luftballons, Buntstifte und Spiele wie in Friedrichshain. Einziger Unterschied: Hier sind viele ohne Eltern unterwegs, um die es doch eigentlich geht. Das Hochhausgebirge namens Pallasseum, einst als „Sozialpalast“ berüchtigt, ist ein eigener Kiez mit eigenen Regeln. „Schreiben Sie das Wort bloß nicht!“, empört sich Angelika Schöttler, sie ist Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg und bildet gewissermaßen die Vorhut für die SPD-Kandidatin Mechthild Rawert, die auf der Bühne sprechen wird. Das Pallasseum mit seinen rund 2000 Bewohnern gilt heute als Beispiel dafür, wie sozialer Abstieg ins Gegenteil verkehrt werden kann. Verwahrlosung, Kriminalität und Hoffnungslosigkeit sind Vergangenheit. Der Bundestagswahlkampf wird hier zur Besichtigung dessen, was Politik erreichen kann, wenn sie alle Beteiligten einbindet.

Der augenfälligste Effekt an diesem Nachmittag: Alle kennen sich hier. Die Kinder sind mit Nachbarn oder Geschwistern da, auch ohne Eltern bleibt hier keines unbeaufsichtigt. Und die meisten Erwachsenen sind in der SPD – von der Mutter der Bürgermeisterin Schöttler bis zu den türkischen Frauen, die an einem Stand türkische Pizza zubereiten. Als Jan Stöß, der Landesvorsitzende der SPD, und Direktkandidatin Mechthild Rawert eintreffen, wird gelacht und gedrückt und gescherzt, als sei Wahlkampf ein Familienfest.

Auch hier geht es dann um die wichtigen Themen der Partei – auf der Bühne. Doch die meisten Besucher sind am direkten Gespräch interessiert. „Ich lebe seit 43 Jahren in Berlin und darf immer noch nicht wählen“, sagt eine ältere Frau mit türkischem Akzent zu den Wahlkämpfern am Stand der „Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt“ der SPD. Auch hier steht ein SPD-Mitglied mit türkischen Wurzeln Rede und Antwort. Aziz Bozkurt ist Landesvorsitzender der AG. Die SPD fordere die doppelte Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht für Ausländer auf kommunaler Ebene, wenn sie länger als fünf Jahre in Deutschland leben, sagt er der Frau. „Das ist gut, aber wählen kann ich Sie ja trotzdem nicht“, die Dame lächelt freundlich.

Rummel und Klagen in Schöneberg

Mechthild Rawert, geboren 1957, sagt: Häufiger als in allen anderen Wahlkämpfen höre sie die Klage jener vielen, die nicht wählen dürfen. Sie tritt zum dritten Mal als Direktkandidatin an. Einmal ist sie schon in den Bundestag eingezogen. 2009 wurde sie nur Dritte nach den Grünen und der CDU. Diesmal, sagen ihre Mitstreiter, stünden ihre Chancen gut, Steinbrück hin oder her. Auch werde an den Ständen häufig die Frage gestellt, was nach der Wahl komme. Nicht wenige Wähler in Schöneberg sähen eine rot-rote Regierung lieber als eine weitere Legislaturperiode mit Angela Merkel an der Spitze. Steinbrück hat sich anders festgelegt. „Geht es nicht auch ohne ihn?“ Die Wahlkämpfer lächeln freundlich auf solche Fragen und schweigen.

Am Rand des Festes steht ein junger Mann mit einem Kinderfahrrad in der einen Hand und seinem sechsjährigen Sohn Batuhan, 6, an der anderen. Auch Melikan Türk, 33 Jahre alt, darf nicht wählen. Eine politische Meinung hat er trotzdem. „Angela Merkel würde ich niemals wählen. Sie tut nichts für Leute wie mich, im Gegenteil.“ Die SPD-Wahlwerbung interessiert ihn nicht. Warum ist er überhaupt zum SPD-Fest gekommen? Er lacht. „Mein Sohn hat die Stände von unserer Wohnung oben gesehen und gesagt: Papa, da unten ist Rummel!“