Ein Sprecher der israelischen Armee besucht Berlin – und erinnert sich dabei an seine „Leidenszeit“

Der Wedding hat den Ruf, ein Problembezirk zu sein. Viele Arbeitslose, Familienclans, viele Menschen arabischer Herkunft, Parallelgesellschaften. Arye Sharuz Shalicar hat den Berliner Stadtteil aus einem anderen Grund verlassen: Er hat hier offenen Antisemitismus erlebt, bis hin zu Gewalt – und das fast täglich. Dabei gilt Wedding bei all seinen Problemen als Vorbild für das multikulturelle Miteinander in der Hauptstadt. Gut 50 Prozent der Einwohner haben dort einen Migrationshintergrund.

In Berlin soll es keine „No-go-Areas“ für Juden geben? Arye Shalicar, der sonst viel lacht, schaut irritiert. Und ob es die gebe, sagt der 36-Jährige empört. „Da hab ich gewohnt!“ In den 90er-Jahren wuchs Shalicar in Wedding auf. 2001 wanderte er nach Israel aus, arbeitet heute als Sprecher der israelischen Armee. Aber ab und zu kommt er noch in seine alte Heimat zurück, nach Berlin. Dann besucht er alte Freunde und die Orte, die sein Leben als Kind prägten.

Es ist ein schöner Spätsommertag. Shalicar steht auf dem Bolzplatz in der Nähe des Gesundbrunnen-Centers, des zentralen Einkaufszentrums in Wedding. Der Stadtteil war früher ein Arbeiterviertel. Heute ist Arbeitslosigkeit das Problem. Auf dem Fußballplatz hat der kleine Arye einst seine Kumpels kennengelernt. Aber auch Fragen wie: Bist du Muslim? Türke? Araber? Es scheint paradox, aber nichts scheint in bunten Migrantenvierteln wichtiger zu sein als Identität. Als der Sohn iranischer Einwanderer „Jude“ antwortet, beginnt die Leidenszeit. In der Schule wird er beschimpft, erinnert sich Shalicar. Auf der Straße werden ihm Prügel angedroht.

Die Schule, das ist das Diesterweg-Gymnasium an der Böttgerstraße. Am Eingang hängt ein Plakat der Berliner Polizei, es lädt zu einem Projekt der „Operativen Gruppe Jugendgewalt“ ein. Jugendgewalt ist noch so ein Problem in Wedding. Auch Arye Shalicar wurde straffällig. „Wenn du nicht klaust, nicht sprayst, nicht in einer Gang bist, gehörst du hier nicht dazu“, sagt er.

Rassistische Sätze in der Schule

In der elften Klasse flog er vom Gymnasium. In einer Biologiestunde hatte Shalicar teilweise rassistische Sätze über Türken und Kurden auf den Tisch gekritzelt. „Das Gespräch spiegelte die Realität, die Konkurrenz und den Hass zwischen beiden Völkern wider. Das, was man als Weddinger fast täglich zu hören bekam“, schreibt Shalicar in seiner Autobiografie.

Über seinen Werdegang hat Shalicar schon 2010 ein Buch geschrieben. Es heißt „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude. Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde“. Bald soll es verfilmt werden. Bei einer anderen Lesung in der Jüdischen Volkshochschule traf Shalicar ausgerechnet seinen ehemaligen Lehrer wieder, der seinen Rausschmiss aus dem Gymnasium erwirkt hatte. „Nach meiner Lesung kam er zu mir, entschuldigte sich und fragte mich, wieso ich denn nie erwähnt hätte, dass ich Jude bin.“ „Daraufhin fragte ich ihn, ob das denn etwas an der Situation geändert hätte. Er dachte wohl, ich sei ein kleiner frecher Moslem, den er sich als Zielscheibe aussuchte, um ihn mit allen Mitteln aus der Schule rauszuschmeißen.“ Doch am Ende schmiss der Lehrer ungewollt den einzigen Juden aus der Schule.

Und wie sieht es heute aus? „Es gibt in der Bundeshauptstadt No-go-Areas für öffentlich bekennende Juden“, sagte Rabbiner Daniel Alter kürzlich der Berliner Morgenpost. Alter wurde 2012 im bürgerlichen Stadtteil Friedenau angegriffen und verletzt. Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) widerspricht dem Rabbiner: In seinem Bezirk gebe es keine Gebiete, in denen man sich nicht sicher bewegen könne. Innensenator Frank Henkel (CDU) sieht das genauso. Arye Shalicar schüttelt den Kopf. „Ich konnte Buschkowsky gut leiden“, sagt der Israeli, „aber dass er so etwas sagt, finde ich peinlich.“ Definitiv gebe es in Berlin Gegenden, wo man als „erkennbarer Jude“ in Schwierigkeiten geraten könne. Dann verabschiedet sich Shalicar. In Spandau heiratet abends ein Freund. Er ist Türke und vermählt sich mit einer Perserin. Es wird ein rauschendes orientalisches Fest geben – mittendrin ein Jude, Sprecher der israelischen Armee.