Wer in diesen Tagen durch die Pfalzburger Straße in Wilmersdorf geht, sieht zunächst eine große Baustelle und dann blaue Rohre, die überirdisch verlegt, von Säulen gehalten und auf große Betonklötze montiert sind. Durch dieses monströse Konstrukt wird das Grundwasser aus der Baugrube gepumpt und in einen nahe gelegenen Abwasserkanal am Ludwigkirchplatz geleitet.
Doch die Blicke der Passanten richten sich nicht nach oben auf die Rohrkonstruktion, sondern nach unten auf die Betonklötze. „Wer wenig denkt, irrt sich oft“ oder „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ ist da zu lesen. Und wie es scheint, lassen sich viele von den weisen Worten von Sören Kierkegaard, Max Frisch oder Thomas Mann ansprechen. Manche Passanten laufen sogar eine Art Slalom. Sie nähern sich vom Hohenzollerndamm, schnell, gehetzt. Dann sehen sie die Zitate und umrunden Sockel für Sockel, um jeden Satz lesen zu können.
Wolfgang Nieblich hat die Betonklötze mit den Weisheiten versehen. „Es werden täglich mehr“, sagt der Künstler, dessen Atelier an der Straße liegt. Nieblich ärgerte sich über die Baustelle und das sperrige Rohrsystem auf dem Bürgersteig. Er wollte sich dort, wo er lebt, auch wohlfühlen, sagt er. Deshalb machte er sich daran, die großen, grauen Klötze vor seinem Schaufenster mit den Aphorismen berühmter Menschen zu gestalten. „Alles wird interessant und wichtig, wenn man nur lange genug hinsieht“ (Gustave Flaubert), „Lesen heißt, mit einem fremden Kopf statt dem eigenen denken“ (Arthur Schopenhauer), „Bücher sind Schiffe, welche die weiten Meere der Zeit durcheilen“ (Francis Bacon) lauten weitere der rund 40 Sinnsprüche. Da die vier Seiten der Klötze inzwischen alle beschrieben sind, weicht der Künstler auf die oberen Flächen aus.
Vor Wolfgang Nieblichs Atelier steht ein Schild auf der Straße. Brauner Holzrahmen, schwarzer Hintergrund, eine Kreidetafel. „Kaffee 2,50“ könnte darauf stehen. Oder „Free WiFi hier“. Doch auf der Tafel vor der kleinen braunen Bank, auf der Nieblich seine Zigarillos raucht, findet man keine Werbung. „Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will“, steht darauf. Paul Cézanne schrieb das 1906 in einem Brief an seinen Sohn.
Cézannes Satz gehört zu Nieblichs Lieblingszitaten. Im Lauf der Jahre hat er eine große Sammlung zusammengebracht – starke Sätze, die sich ihm eingeprägt haben. Die besonders Guten schaffen es auf die Tafel vor seinem Atelier, sie sind die „Zitate der Woche“. Die Reaktionen der Passanten seien durchweg positiv, sagt Nieblich. Einige hätten sich von den auf Beton festgehaltenen Gedanken sogar inspirieren lassen. „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“, lautet eine Weisheit von Albert Einstein. Der Aphorismus hat einer Zahnärztin aus der Nachbarschaft bei der Bewältigung eines kniffligen Falls in ihrer Praxis geholfen, das erzählte sie später dem Künstler.
Passanten bleiben stehen
Im Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit steht für Nieblich das Buch. Von klein auf sei er mit zahlreichen Büchern aufgewachsen. „Mein Großvater hatte hinter dem Haus sogar eine Buchbinderwerkstatt und eine kleine Druckerei“, erzählt der 65-Jährige. Deshalb haben auch viele der Zitate auf dem Beton das Buch oder das Lesen zum Thema.
Seine Kunst auf die Straße zu tragen, war wohl nur eine Frage der Zeit für Nieblich. Im Haus neben seinem Geschäft hat der Künstler sein Atelier, daneben seinen Showroom. Er wohnt 50 Meter weiter in die eine, seine Frau 100 Meter in die andere Richtung. „Das hier ist mein Kiez, und ich komme immer wieder hierhin zurück“ sagt Nieblich. 1982 ist der Künstler in diese Räume gezogen, kurz nachdem die DDR ihn des Landes verwiesen hatte. Karikaturen hat er damals gezeichnet. Herumexperimentiert. Inzwischen lebt er seit 40 Jahren von der Kunst und kann, nach eigener Aussage, machen was er will. Trotz seines Erfolges ist er immer in Berlin geblieben. West-Berlin, um genau zu sein. Denn die östlichen Bezirke meidet der Künstler, so gut er kann. Er sei da „biografisch geschädigt“, sagt er.
Bis zu zehn Leute kommen täglich in das Atelier des Künstlers und gratulieren ihm zu seiner Aphorismen-Idee. Auf den Zuspruch hat der Künstler mit einem kleinen Buch reagiert. „Auf Beton“ heißt der Band, in dem Fotos der Kunstwerke zu sehen sind. Manche mit, andere ohne Leser. Der Band trägt die Nummer 321 in der großen Sammlung von Nieblichs Werken – wie die meisten seiner Geschwister ist das Buch Kind einer spontanen Eingebung. Passanten bleiben stehen, bücken sich und machen Fotos mit ihren Smartphones oder Digitalkameras. Via Facebook und Twitter reisen die Sprüche auf den Klötzen derzeit durchs Internet.
Auch die Tiefbau-Firma Brechtel, die die Baustelle betreibt und die meterlangen Rohre über den Fußweg leitet, ist vom Projekt des Künstlers begeistert. „Wir haben immer wieder Anfragen von Künstlern, unsere Baustellen für Installationen zu nutzen“, sagt Ralph Schuster. Doch aus den allermeisten Projekten werde nichts. Der Diplom-Ingenieur besuchte das Street Art Projekt Nieblichs und war überzeugt. Er bestellte 50 Exemplare der demnächst in Nieblichs Verlag PalmArt erscheinenden Dokumentation des Street-Art-Projekts.
Brechtel will die Zitate auch nach Abbau der Geräte an den Blöcken belassen und zu künftigen Baustellen mitnehmen. Nieblichs Kunst wird also bald nicht nur an der Pfalzburger Straße, sondern auch an anderen Baustellen in der Stadt zu sehen sein.