Erinnerung braucht einen Ort. Genauer: einen Raum. Und diesen Raum, so Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), „schaffen wir jetzt“. In zwei bis drei Jahren soll dieser im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof entstehen. Am Dienstagmittag war der offizielle Baubeginn des künftigen Dokumentationszentrums der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV), mit dem an das Schicksal der vielen Millionen Menschen erinnert werden soll, die im 20. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Vertreibungen“, aus politischen, nationalistischen oder rassistischen Gründen ihre Heimat zwangsweise aufgeben mussten. Im Mittelpunkt stehen dabei die bis zu 14 Millionen Deutschen aus Ostmitteleuropa, die am Ende und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westen flüchteten oder abgeschoben wurden. Retten konnten sie meist nur das, was sie am Leib trugen oder gerade so tragen konnten.
„Mit dem Dokumentationszentrum wird eine Leerstelle in der Gedenkstätten- und Museumslandschaft Deutschlands geschlossen“, stellte die Kanzlerin fest. Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) hatte zuvor schon, süffisant an Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz (SPD) gerichtet, gesagt: „Und das auf Kosten des Bundes – das haben Sie doch am liebsten!“ Tatsächlich bekommt die Hauptstadt mit der SFVV ein weiteres zeithistorisches Museum entlang der schon heute von vielen Touristen frequentierten Geschichtsmeile zwischen Brandenburger Tor, Holocaustmahnmal, Topographie des Terrors und Checkpoint Charlie.
Sowohl Merkel wie Neumann legten großen Wert darauf, die Ursachen der Vertreibungen zu benennen: Ohne den von Hitler-Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg hätten die Millionen Deutschen im Osten Mitteleuropas ihre Heimat nicht verlassen müssen. Das Dokumentationszentrum sei deshalb auf eine europäische Versöhnung ausgerichtet. Merkel räumte ein, über den symbolischen Baubeginn erleichtert zu sein. Damit spielte die Kanzlerin auf die zahlreichen Streitigkeiten an, die in den vergangenen 13 Jahren die öffentliche Diskussion um eine solche Dokumentation begleitet hatten.
Ausgangspunkt der SFVV war eine Initiative des Bundes der vertriebenen und seiner Präsidentin Erika Steinbach (CDU) sowie des früheren Berliner Wissenschaftssenators Peter Glotz (SPD) im Jahr 1999. Die beiden, selbst als Kinder betroffen vom Verlust der Heimat, hatten sich für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ eingesetzt. Glotz starb sechs Jahre später, auf dem Höhepunkt einer teils aggressiv und polemisch gegen dieses „Zentrum“ geführten öffentlichen Debatte. Ebenfalls 2005 setzte die CDU im Regierungsprogramm der Großen Koalition durch, dass ein „sichtbares Zeichen“ der Erinnerung an Flucht und Vertreibung errichtet werden sollte. Das entsprechende Gesetz wurde zwar 2008 beschlossen, doch nach der Bundestagswahl 2009 und dem Gang der SPD in die Opposition begann eine scharfe Kampagne gegen die Initiative.
Plakate von Vertriebenen
Freimütig räumte Angela Merkel ein, selbst nicht immer daran geglaubt zu haben, dass es tatsächlich ein „sichtbares Zeichen“ am einzig angemessenen Ort in Berlins Mitte geben würde. Zumal mit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) auch ein sehr prominentes Mitglied des Stiftungsrates mehrfach indirekt die Arbeit des Stiftungsteams in Frage gestellt hatte. Dank des Beharrungsvermögens von Bernd Neumann und durch die ruhige, sachliche Arbeit des Stiftungsdirektors Manfred Kittel konnte die Arbeit des SFVV dennoch beginnen.
Für das künftige Museum wird das Deutschlandhaus tiefgreifend umgebaut. Erhalten bleiben nur die teilweise historischen Flügel hin zur Anhalter und zur Stresemannstraße. Dagegen werden der Nord- und der Ostflügel, die in den 50er-Jahren im Rahmen des Wiederaufbaus entstanden, abgerissen. An ihrer Stelle errichtet das österreichische Architekten-Bruderpaar Marte und Marte einen neuen Baukörper, der den Aufgaben, die ein derartiges Museum hat, angepasst ist. Durch ein riesiges Fenster hin zur gegenüber gelegenen Dokumentation Topographie des Terrors auf dem Gelände der einstigen Gestapozentrale sollen die Ursachen für die Vertreibung von Millionen Deutschen spürbar werden. Geplant ist die Einweihung des Dokumentationszentrums für 2015. Ob das allerdings zu halten sein wird, sehen Mitglieder des international besetzten Wissenschaftlichen Beraterkreises skeptisch: „Wir werden in zwei Jahren mit der Dauerausstellung soweit sein“, sagte ein Beiratsmitglied der Berliner Morgenpost. „Ob das die Architekten und Ingenieure auch schaffen werden?“
Sichtbar ist die neue Phase in der Entstehung der SFVV zunächst nur durch große Plakate an der zu erhaltenden Hausecke gegenüber dem Anhalter Bahnhof. Auf einem davon sind Vertriebene zu sehen, die ihr Hab und Gut mit Handkarren transportieren. Es ist das symbolische Bild für das Jahrhundert der Vertreibungen.
Die Mitinitiatorin Erika Steinbach zeigte sich zufrieden. Zwar habe es lange gedauert, bis jetzt Tatsachen geschaffen werden konnten. „Aber das ist wohl in Deutschland so – es hat ja beim Holocaust-Mahnmal auch ein Dutzend Jahre gedauert“, sagte die Bundestagsabgeordnete, die seit 1998 den Bund der Vertriebenen repräsentiert. Zwar hat sich Steinbach, die vor allem in Polen als Reizfigur gilt, persönlich aus den Gremien der SFVV zurückgezogen. Doch bleibt ihr Verband stark vertreten. Und es wird im Deutschlandhaus künftig einen „Raum der Stille“ geben, gewidmet den Millionen Opfern von Flucht und Vertreibung – ein Hauptanliegen der Initiative.