Die Vorstellung der Kandidaten bringt es an den Tag, dass sich in der Spitze der Berliner SPD nicht alle gleich liebhaben. Jan Stöß drückt seinen Favoriten Bussis auf die Wangen. Mit Küssen bedenkt der Landesvorsitzende Eva Högl. Er umarmt Swen Schulz, herzt Cansel Kiziltepe, legt seine Hand freundlich auf den Arm von Fritz Felgentreu, Mechthild Rawert widmet Stöß ein Lächeln. Ülker Radziwill hingegen bekommt nur einen Händedruck und Ute Finckh-Krämer einen flüchtig gehobenen Daumen.
Als die 225 Delegierten des Landes drei Stunden später die aussichtsreichen ersten sechs Plätze auf der Berliner Landesliste bestimmt haben, haben sich die Sympathie- und Antipathie-Gesten des Vorsitzenden als exakter Gradmesser für den Ausgang der Wahlen erwiesen. Die Stöß-Freunde kamen durch, so wie es der Landesvorstand in dieser Woche vorgeschlagen hatte.
Ganz vorne die Bundestagsabgeordnete aus Mitte, Eva Högl, dahinter die Parlamentskollegen Swen Schulz aus Spandau und Mechthild Rawert aus Tempelhof-Schöneberg. Gefolgt werden die Mandatsträger von Klaus Mindrup aus Pankow und dem neuen Stern der Partei, der Ökonomin Cansel Kiziltepe, die sich als Kreuzberger Gastarbeiterkind vorstellte. Platz sechs, der bei einem Ergebnis von mehr als 25 Prozent für die SPD in Berlin für den Sprung in den Bundestag reichen könnte, ging an den Neuköllner Lateinlehrer Fritz Felgentreu, den Sprecher des rechten Parteiflügels.
Stöß konsolidiert seine Macht
Der 39 Jahre alte Verwaltungsrichter Jan Stöß, der vor einem knappen Jahr dem Stadtentwicklungssenator Michael Müller den Landesvorsitz mit knapper Mehrheit abjagte, hat damit ein politisches Werk abgeliefert, das ihm viele nicht zugetraut hätten. Als bei der Wahl des dritten Listenplatzes die von Stöß und dem Landesvorstand unterstützte Bundestagsabgeordnete Mechthild Rawert aus Tempelhof-Schöneberg durchkam, entwich die Spannung aus der Versammlung. Die Gesundheitsexpertin ist intern durchaus umstritten, und so war es nicht klar, ob sie gegen die vom mitgliederstärksten Kreis Charlottenburg-Wilmersdorf nominierte Sozialexpertin Ülker Radziwill bestehen würde. Die stellvertretende Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus verwies auf ihr langjähriges Engagement im Wahlkreis und ihre sozialdemokratische Herkunft als Gastarbeiterkind. Aber das reichte nicht, eine Mehrheit zu organisieren. Zumal die großen West-Kreise, die vor einem Jahr gegen Stöß aufseiten des Ex-Vorsitzenden Müller gestanden hatten, sich nicht einig waren. Steglitz-Zehlendorf schickte seine Bewerberin Ute Finckh-Krämer ebenfalls um Platz vier ins Rennen. Die beiden Herausforderinnen nahmen sich gegenseitig die Stimmen weg, sodass es für Rawert knapp im ersten Anlauf reichte.
Alles lief also für den Landesvorsitzenden Stöß. Da fiel es weniger ins Gewicht, dass seine Rede die Delegierten nicht wirklich von den Sitzen riss. Obwohl Stöß mit zahlreichen Hinweisen auf die Aktivitäten von Basis-Genossen zum 150. Geburtstag der SPD Punkte sammelte, blieb der Applaus im Saal des Estrel in Neukölln verhalten. Zustimmung gab es, als Stöß das Wirken der SPD in Berlin lobte: „Klaus Wowereit hat Berlin unglaublich verändert“, rief Stöß, und der Erwähnte lächelte zwei Meter links von ihm auf dem Podium. „Der Erfolg der Stadt ist auch unser Erfolg.“
Unter der Regie von Stöß hat sich der Landesverband auch in der Bundespolitik stärker als zuvor unter Michael Müller engagiert und einige linke Akzente gesetzt. Stöß reklamierte eine Urheberschaft für das SPD-Rentenkonzept, das eine Mindestrente von 850 Euro vorsieht. Es war kein Zufall, dass der Bundestagsabgeordnete Swen Schulz bei der Kandidatenkür mit 97 Prozent ein exzellentes Ergebnis einfuhr. Als Spandauer kommt er nicht nur aus dem Kreis des einflussreichen Abgeordnetenhaus-Fraktionschefs Raed Saleh. Er konnte auch anführen, dass er seinerzeit entgegen der Fraktionslinie gegen die Bahn-Privatisierung und für die Offenlegung von Nebeneinkünften gestimmt und vor dem Verfassungsgericht für mehr Parlamentarier-Rechte bei der Euro-Rettung gestritten hatte. Diese Haltung zieht in der Berliner SPD.
Viel Applaus für Steinbrück
Ebenso gut kam an, als Cansel Kizeltepe, die sich als politisches Ziehkind des kürzlich verstorbenen SPD-Sozialpolitikers und Agenda-2010-Kritikers Ottmar Schreiber vorstellte, der Partei eine Mitschuld an der sozialen Lage von Geringverdienern und Arbeitslosen zuwies. Deshalb seien Korrekturen an der Agenda richtig. „Wer, wenn nicht wir, hat die Kraft, aus Fehlern zu lernen“, fragte die Ökonomin. Dafür bekam sie mit 82 Prozent mehr Zustimmung als die Spitzenkandidatin Eva Högl. Fast jeder vierte der Genossen verweigerte der Obfrau der SPD im NSU-Untersuchungsausschuss die Stimme. „Weil sie keine ganz aufrechte Linke ist“, wurde das hernach begründet.
Als Linker ist auch Kanzlerkandidat Peer Steinbrück nicht bekannt, der zu Beginn des Konvents die Sozialdemokraten auf den Wahlkampf einstimmte. Steinbrück war deutlich bemüht, Sympathien bei den linken Berlinern zu sammeln. Er lobte die Gleichstellungspolitik, die sich darin manifestiere, dass die Berliner SPD in sechs der zwölf Bundestagswahlkreise Frauen nominiert und eine streng quotierte Liste aufstellte. In seiner Rede distanzierte sich der frühere Finanzminister deutlich von früheren Agenda-2010-Beschlüssen. Auch mit dem klaren Bekenntnis zu Rot-Grün umwarb Steinbrück die Herzen. Mit anderen Optionen beschäftige er sich nicht, sagte er. Die Berliner Genossen dankten es ihm mit stehenden Ovationen.