Die Berlinerin Sharon Adler gründete das Onlineportal Aviva. Frauen erzählen dort das Leben Verstorbener

Der kleine Fuchs kommt aus der Wüste Israels in die große Stadt Berlin. Er versteht nichts von dem, was dort um ihn herum ist. Nicht die Sprache, nicht die Gepflogenheiten dieser riesigen Stadt. Und dann, weit entfernt von der Heimat, stellt sich die Frage: Wer bin ich eigentlich, ich kleiner Fuchs? Seit zwei Jahren gibt es den Blog von dem kleinen Fuchs bereits, es ist die künstlerisch umgesetzte Biografie der israelischen Künstlerin Michal Fuchs. „Der Blog beschäftigt sich mit der Frage der israelisch-jüdischen Identität in Deutschland – und das ist auch das Thema des Aviva-Projektes“, sagt die 29-Jährige. Das „Projekt“, von dem Michal Fuchs spricht, sind die „Writing Girls“. Ein von den Stiftungen „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ und „Zurückgeben“ gefördertes Projekt zur Entdeckung verborgener Frauenbiografien in Berlin im Rahmen des Programms „Jüdische weibliche Identitäten heute“.

Dinge sichtbar machen

Sharon Adler, Gründerin und Herausgeberin des Onlinemagazins „Aviva-Berlin“, rief die „Writing Girls“ ins Leben. „Mir ging es schon immer darum, Dinge sichtbar zu machen“, sagt die Trägerin des Berliner Frauenpreises 2012. „Und hier geht es nun darum, diese Frauen, die fast alle schon tot sind, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“ Kaum war die Ausschreibung für das Projekt im Internet veröffentlicht, stand das Telefon der „Aviva“-Redaktion kaum mehr still. Jüdische Frauen aus vielen Teilen der Welt wollten über eine jüdische Frau schreiben.

Gemeinsam ist den Teilnehmerinnen im Alter von 17 bis 61 Jahren, dass sie auf irgendeine Art und Weise in die Biografie der von ihr porträtierten Frau involviert sind oder dass ihre Geschichte sie berührt. So ist es auch bei Michal Fuchs und Rachel Shneiderman, 61. Was die beiden Frauen am Küchentisch von Sharon Adler erzählen, über ihre Reise an die verschiedensten Orte auf den Lebensstationen der von ihr porträtierten Frau, zeigt schnell: Jede Geschichte erzählt eine neue Geschichte und vielleicht sogar zum großen Teil auch die eigene. „Über ihre Geschichte und die Geschichte ihres Sohnes komme ich auf meine Geschichte.“ So sagt es Michal Fuchs. Sie begab sich auf die Lebensreise von Judith Drumer, einer Frau, die seit 22 Jahren tot ist. „Ich wollte wissen, ob ich sie wieder zum Leben erwecken kann.“ Sie schrieb Ori Drumer, „dem Leiter meines Instituts am College in Jerusalem“, erzählt die junge Frau, die seit Mai 2010 in Berlin lebt. Sie wärmt ihre zarten Hände an einem Becher Tee. „Ori war mein Mentor, meine Inspiration. Und ich wusste vage, dass er eine Geschichte mit sich herumträgt, die mit Deutschland, Judentum und Identität zu tun hat. Da erzählte er mir von seiner Mutter Judith.“

Es gab Fakten über dieses Leben: 1932 wurde Judith als Tochter von Johanna und Dov, einem nicht orthodoxen Juden, geboren. Johanna, Oris Großmutter, war Christin, die vor dem Krieg zum Judentum konvertierte. Michal recherchierte, telefonierte, verfolgte Spuren und fand plötzlich heraus, dass Johanna, Oris Großmutter, die Mutter seiner Mutter Judith, niemals zum Judentum konvertiert war. „Nach jüdischer Religion ist jedes Kind einer jüdischen oder einer konvertierten Mutter jüdisch“, schreibt Michal Fuchs in ihrem Text, der auf der Homepage von „Aviva“ zu lesen ist. Was bedeuten würde, dass Judith gar keine Jüdin war – und folglich Ori kein Jude ist. „Plötzlich brach dieser Fakt in seinem Leben weg, die Tatsache seiner jüdischen Identität. Ori hat schon immer jüdisch gelebt, ist schon immer jüdisch gewesen – und nun soll er es nicht mehr sein?“, sagt Fuchs, und damit ist sie wieder bei sich: „Dieses Projekt hat auch viel zu tun mit meiner Identität als Jüdin in Deutschland. Meine Mutter ist jüdisch – also bin ich es auch. Aber ist das alles?“ Die junge Frau stellt Fragen, sich und anderen: Wie viel Raum nimmt das Wissen über eine irgendwie geartete Zugehörigkeit ein? Wie wichtig ist es? Vor allem vor dem Hintergrund, dass dieser Fakt – wie bei Ori – einfach wegfallen kann?

Rachel Shneiderman ist das älteste „Writing Girl“. In ihrem Text über Charlotte Hermann heißt es am Anfang zusammenfassend: „Geboren in Dresden, Exil in Prag, Deportation nach Theresienstadt und Auschwitz. Todesmarsch. Rückkehr nach Prag. 1980 Flucht aus Prag nach West-Berlin. Rachel Shneidermans Erinnerungen an eine ungewöhnliche Frau, die sie bis heute nicht loslässt.“ Shneiderman ist Altenpflegerin im Ruhestand, arbeitete als Gemeindeschwester bei der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Hausbesuche bei kranken und hilfebedürftigen Menschen waren bei ihr an der Tagesordnung. So auch an jenem Januarmorgen vor mehr als 25 Jahren, als „ich mich auf den Weg gemacht habe, um Charlotte Hermann kennenzulernen“, schreibt die aus Russland emigrierte Jüdin, die erst nach Israel und schließlich 1978 nach West-Berlin kam.

Ein trauriger Anblick

Eine Nachbarin von Charlotte Hermann hatte um Hilfe gebeten. Die Frau sei krank und müsse dringend zum Arzt. Sie war es, die Rachel Shneiderman die Tür zur Wohnung öffnete, und was dann geschah, beschreibt die ehemalige Altenpflegerin heute so: „Auf einer alten nackten Matratze, die in der Ecke der Nische lag, saß Charlotte. Die langen Haare, die einst rot gefärbt gewesen waren, hingen ungekämmt und ungewaschen über ihre Schulter und bedeckten ihr Gesicht.“ So weit ein Anblick, den Rachel Shneiderman, so traurig es ist, sicher von ihrer Arbeit kannte. Doch dann kam der Moment, der sie bis heute nicht loslässt – und der sie an Charlotte und ihr Schicksal fesselt. Die Frau, die dort auf der Matratze saß, hob langsam den Kopf, als sie die Besucherin bemerkte und schaute sie an. „Wenn es wahr ist, dass die Augen die Spiegel der Seele sind, dann waren diese Spiegel leer.“

Am Küchentisch bei Sharon Adler herrscht Stille. Was soll man sagen, wenn ein solcher Satz im Raum steht? Rachel Shneiderman füllt die Leere: „Und dennoch dachte ich: Wie schön sie ist.“ Fünf Jahre folgten, in denen Rachel Shneiderman und Charlotte Hermann – obwohl sie 30 Lebensjahre trennten – vielleicht so etwas Ähnliches wie Freundinnen wurden. Die Altenpflegerin erfuhr einiges über die damals 64-jährige Frau, über ihr Schicksal, ihr Leben – ohne wirklich etwas zu wissen über die Gründe, die die Augen der zweifellos einst schönen jungen Frau erlöschen ließen. Mit 69 Jahren starb Charlotte Hermann an Krebs.

Dann kam im vergangenen Jahr die Mail, die über den Verteiler der Jüdischen Gemeinde den Weg zu Rachel Shneiderman fand. Darin wurde das „Aviva“-Projekt „Writing Girls“ vorgestellt. „Noch während ich die E-Mail las, wusste ich: Das ist es“ – für sie war nun die Zeit gekommen, die Geschichte von Charlotte zu erzählen und auch für sich herauszufinden, warum diese einsame Frau wurde, was sie war.

Mehr Informationen unter : www.aviva-berlin.de