Libyscher Bürgerkrieg

"Ich habe großes Glück gehabt"

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Christine Kensche

Als er ihre Stimmen hört, weiß Abdul Al-Ramih, dass es zu spät ist. Er wird nicht mehr fliehen können, die Soldaten haben sein Haus bereits umstellt. Zu siebt stürmen sie herein, packen ihn, seinen Bruder und seinen Onkel, schleppen sie raus zu ihrem Jeep. Sie werden uns ins Gefängnis bringen, foltern, verhören, denkt er. Doch als der Wagen auf dem großen Platz inmitten der Stadt Sawija im Nordwesten Libyens anhält, weiß Al-Ramih, dass er sich geirrt hat. Die Soldaten stoßen die Männer aus dem Jeep.

"Dreht euch um", befiehlt einer mit rauer Stimme. "Und jetzt: Rennt!" Dann eröffnen sie das Feuer.

Al-Ramih kommt keine zehn Meter weit. Die erste Kugel dringt in sein linkes Bein, zerfetzt seinen Unterschenkel. Die zweite und dritte bohren sich in Unter- und Oberschenkel seines rechten Beins. Al-Ramih stürzt in den Sand. Neben ihm geht sein Onkel zu Boden, auch ihn hat ein Schuss in die Beine getroffen. Sein Bruder liegt ein paar Meter weiter hinter ihnen - er ist tot. Nach einer letzten Salve hört Al-Ramih, wie der Jeep wendet. Die Soldaten fahren weg, nur einer bleibt bei ihnen. "Hört auf zu schreien", herrscht er sie an. Zwanzig Minuten später fährt ein Krankenwagen auf den Platz. Er bringt sie in das Krankenhaus im 47 Kilometer entfernten Tripolis, der Hauptstadt des im Bürgerkrieg versinkenden Libyen.

"Das Regime hat uns für seine Propaganda benutzt", sagt Al-Ramih. "Gaddafis Leute wollten an uns zeigen, wie streng sie mit Rebellen umgehen. Aber auch, wie gütig sie sind. Deshalb haben sie meinen Bruder erschossen, aber mich und meinen Onkel ins Krankenhaus gebracht." Soldaten bewachen die Türen der Behandlungszimmer, in denen Rebellen und Demonstranten wie Al-Ramih liegen, die gegen die Diktatur Muammar al-Gaddafis gekämpft haben. Zwei Monate bleibt Al-Ramih in Tripolis.

"Nach dem Krankenhausaufenthalt wollten die Soldaten uns ins Gefängnis bringen", sagt der 31-Jährige. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Am 21. August nehmen die libyschen Freiheitskämpfer Tripolis ein. Die neue Übergangsregierung überführt die besonders schwer Verletzten in ausländische Kliniken, die für die komplizierten Fälle besser ausgestattet sind. Al-Ramihs Onkel wird nach Großbritannien gebracht. Er selbst kommt nach Deutschland.

"Ich habe großes Glück gehabt", sagt Al-Ramih. Heute, acht Monate nach dem Tag, an dem Soldaten in sein Haus in der Küstenstadt Sawija stürmten, liegt er in einem Zweibettzimmer im Martin-Luther-Krankenhaus in Grunewald. Sein linkes Knie ist geschwollen, über sein Schienbein zieht sich eine sechs Zentimeter lange Narbe. Al-Ramih trägt blaue Jeans. Das rechte Hosenbein hat er zu einem Knoten gebunden. In Tripolis haben sie ihm ein Bein abgenommen, 30 Zentimeter sind übrig geblieben. Das andere Bein sollte folgen. Doch die deutschen Ärzte konnten es retten. Vier Operationen hat Al-Ramih hinter sich. Zwölf Stunden benötigten die Chirurgen, um sein linkes Bein zu richten und ihm eine Prothese für das rechte anzupassen.

"Als er zu uns kam, hatte er eine schwer infizierte Fraktur. Der Knochen im linken Unterschenkel war komplett durch", erzählt Wolf Petersen, Chefarzt der Orthopädie und Unfallchirurgie im Martin-Luther-Krankenhaus. 35 Patienten aus Libyen hat er bereits behandelt. Die meisten hatten Schussverletzungen. "So viele haben wir noch nie gesehen", sagt Petersen. "Das war eine ziemliche Herausforderung."

Gebetsraum und arabisches Essen

Doch nicht nur auf die schweren Verletzungen, auch auf die kulturellen und sprachlichen Barrieren musste sich die Klinik einstellen. Mehrere libysche Muttersprachler sind nun täglich im Dienst, betreuen die Patienten und übersetzen zwischen ihnen, den Krankenschwestern und den Ärzten. Statt der normalen Krankenhauskost können sich die Muslime arabisches Essen bringen lassen. Auf einem Flur haben die Krankenschwestern einen Gebetsraum eingerichtet. Was die Klinik allerdings nicht leisten könne, sagt Petersen, sei eine psychologische Betreuung. Dazu fehle es an Arabisch sprechendem Personal.

"Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Männer traumatisiert ist", sagt Petersen. Die meisten Libyer sind zwischen 20 und 35 Jahre alt. Viele sehen deutlich älter aus. "In den Medien ist oft von den 30 000 Toten in dem libyschen Bürgerkrieg zu lesen", sagt der Chefarzt. "Dabei wird oft vergessen, dass eine ganze Generation physisch und psychisch schwer geschädigt wurde. Und das ist genau die Generation, die jetzt eigentlich ihr Land wiederaufbauen müsste."

Bis Abdul Al-Ramih sich daran beteiligen kann, ist es noch ein langer Weg. Bisher schafft er es mit der Prothese und den Krücken gerade einmal 50 Meter den Flur herauf und wieder herunter. Mehrere Monate Reha stehen ihm noch bevor, bis er wieder eigenständig gehen kann. Aber er ist optimistisch. Neben seinem Krankenbett steht ein neues Paar blauer Laufschuhe. "Die habe ich auf dem Kurfürstendamm gekauft", erzählt er. Wenn die Visite vorbei ist, unternimmt Al-Ramih oft Ausflüge mit seinem jüngeren Bruder Salem, der ihn nach Deutschland begleitet hat. Den Alexanderplatz, den Zoo und das Brandenburger Tor hat er schon gesehen. Salem schiebt ihn im Rollstuhl durch die Stadt. Am liebsten sind sie auf der Sonnenallee unterwegs. "Da gibt es so viele arabische Geschäfte - das ist fast wie zu Hause", sagt Al-Ramih. "Nur an die Kälte habe ich mich noch nicht gewöhnt."

Die Sehnsucht nach der Heimat ist groß. Einmal haben die Brüder einen Ausflug nach Frankfurt unternommen. Salem hatte gehört, dass es dort ganz viele Parks geben soll. "Ich dachte, das könnte Abdul gefallen", erzählt der 22-Jährige. Ihr getöteter Bruder hatte in Sawija einen eigenen Gemüsegarten. Abdul Al-Ramih hatte ihn dort oft besucht und bei der Ernte geholfen. Wenn die beiden nach Hause kommen, wollen sie als erstes zum Grab ihres Bruders fahren.

Was danach kommt, weiß er nicht

Auf den Moment, in dem er seine Eltern und Geschwister in Libyen wiedersieht, freue er sich jeden Tag, sagt Al-Ramih. Was danach kommt, wisse er noch nicht. Bislang hat er sich als Gärtner, Obsthändler und Taxifahrer durchgeschlagen. "Libyen ist eigentlich ein reiches Land. Aber Menschen wie ich haben keine Chance auf Bildung, gute Arbeit, medizinische Versorgung." Deswegen habe er geholfen, Demonstrationen gegen Gaddafis Regime zu organisieren.

Im Juni soll in Libyen eine verfassungsgebende Versammlung gewählt werden. Bis dahin möchte Al-Ramih unbedingt wieder zu Hause sein. Wen er wählt, hat er noch nicht entschieden. "Hauptsache ist doch, dass wir überhaupt wählen gehen können." Dass er dann wahrscheinlich immer noch humpeln wird, sei für ihn zweitrangig, sagt er. Nachdenklich massiert er den Stumpf seines rechten Beins. Dann schiebt er noch einen Satz hinterher: "Die Freiheit hat eben ihren Preis."