Tagebücher

Die Lust am Leben der Anderen

| Lesedauer: 8 Minuten
Christine Kensche

Voyeurismus? Nein, das sei nun wirklich die falsche Bezeichnung für sein Hobby, sagt Theodor Schmidt. Trotzdem stiehlt sich ein verlegenes Lächeln in das schmale Gesicht des hochgewachsenen Mannes. Denn der 31-Jährige hat eine ungewöhnliche Leidenschaft: Er liest gern fremde Tagebücher.

Geldsorgen, Liebesträume, verborgene Fantasien - an die dreihundert private Aufzeichnungen sind dem Neuköllner bestens bekannt, kein Geheimnis ist vor ihm sicher. Und wenn er eines besonders spannend findet, dann trägt er es gar öffentlich vor, in den Bars in seinem Kiez. Aber Intimsphären verletze er damit nicht, sagt Schmidt. Schließlich seien die meisten Personen, deren Innerstes er auf seinen Lesungen offenbart, längst tot.

Heimlicher Schwarm

So wie das Mädchen Hilde aus Mannheim, das 1929 kurz vor dem Abitur steht, sich aber mehr Sorgen um ihr Liebesleben als die nahenden Klausuren macht. Ihr ganzes letztes Schuljahr, erzählt Schmidt, habe sie nur auf ein Ziel hingearbeitet: einen Kuss von ihrem heimlichen Schwarm. Hilde hat sich in einen Theaterschauspieler verliebt. Abend für Abend lungert sie mit ihren Klassenkameradinnen vor dem Mannheimer Nationaltheater herum, in der Hoffnung, den zehn Jahre älteren Mann abpassen zu können. Als eine ihrer Freundinnen ausgerechnet bei ihrem Idol eine Anstellung als Hausmädchen annimmt, wittert die Schülerin ihre Chance. "Hilde fasst Fuß in der Theaterszene und lernt bald ein paar ziemlich schräge Gestalten kennen", erzählt Schmidt. Auf einer Party wird sie endlich ihrem Schwarm vorgestellt. Und tatsächlich: Hilde bekommt, was sie sich so lange gewünscht hat. "Ich bin so glücklich. Endlich hab ich erworben, was ich schon immer ersehnte. Er kennt mich jetzt wirklich, und ich habe einen Kuss von ihm bekommen. Das war mein höchstes Ziel", notiert das Mädchen am Karfreitag, den 27. März 1929, in ihrem kleinen blauen Tagebuch. Theodor Schmidt hat es für 60 Euro bei Ebay erworben. "Ein echter Glücksfund", sagt er.

Schmidt ist ein Sammler. Er durchstöbert Flohmärkte, Antiquariate und vor allem das Internet nach alten Handschriften. Seine Liebe gilt den Tagebüchern. Aber auch Bibeln, Skizzen, Fotos, Gebetsbücher und Postkarten stapeln sich in seinem WG-Zimmer, in drei verstaubten Regalen und Dutzenden ungeordneten Kartons. Vor ein paar Tagen erst hat er 20 Aufsätze für einen Euro bei Ebay ersteigert. Sie sollen aus den 20er-Jahren stammen, mehr Angaben hat der Verkäufer nicht gemacht. Schmidt bestellt oft ganze Kisten alter Schriften. "Das ist wie bei einer Wundertüte: Manchmal ist ein ganz tolles Stück dabei, oft auch nur belangloses Zeug", sagt er. Was ihm gefällt, behält er, den Rest verkauft er weiter - an Ahnenforscher, Hobby-Historiker und auch Heimatkundler.

Schon seit seiner Schulzeit gibt Schmidt sein Erspartes hauptsächlich für alte Bücher aus. An der Freien Universität Berlin belegte er alle Kurse zur Schriftkunde. Mit seinen wachsenden Kenntnissen wurde auch seine Suche nach Raritäten immer systematischer. Mittlerweile ist seine Sammlung so groß, dass er von dem Handel mit Handschriften leben kann. Für die wertvollsten Exemplare bekommt er mehrere Hundert Euro. Sein Geschichtsstudium hat er mittlerweile aufgegeben. Eigentlich, sagt Schmidt, sei er auch längst nicht mehr darauf angewiesen, in günstigen WG-Zimmern mit Kachelöfen zu wohnen. "Aber ich verkaufe immer nur so viel, wie ich unbedingt muss." Und auf keinen Fall würde er jemals eines seiner mittlerweile rund 300 Tagebücher hergeben. "Nicht für Millionen", sagt Theodor Schmidt. "Die sind mir viel zu sehr ans Herz gewachsen."

Seinen ersten Fund machte er vor zehn Jahren, auf dem Flohmarkt am Boxhagener Platz. "Es lag in einer Bücherkiste, hatte Brandlöcher und war in Sütterlin geschrieben", erinnert sich Schmidt. Lesen konnte er das damals noch nicht, aber die alte Schrift faszinierte ihn. Zu Hause begann er Seite für Seite zu entziffern und so baute sich langsam ein Leben vor ihm auf: die Geschichte des Skandinavistik-Studenten Aarne, der den Sommer des Jahres 1940 im Grunewald verbringt und sich kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs einer pazifistischen Nacktkolonie anschließt - Menschen, die sich in ihrer Freizeit eine kleine Siedlung aus Zelten und Baumhäusern bauen, um ungestört dem Freikörperkult zu frönen.

Jedes Tagebuch tippt er ab, entziffert die alte deutsche Schreibschrift, recherchiert veraltete Ausdrücke. "Ich beschäftige mich so lange mit den Gefühlen dieser fremden Menschen, dass sie fast ein Teil von mir werden", sagt er. "Ich freue mich, wenn ihnen etwas gelingt, bin traurig, wenn etwas Schlimmes passiert." Eigentlich wie bei einer Romanfigur, sagt er. Und doch anders: "Ich weiß, dass sie wirklich gelebt haben und dass das, was ich lese, passiert ist. Das macht es viel intensiver."

Manchmal so intensiv, dass er die Geschichten mit jemandem teilen möchte. Anfangs hat er kurze Passagen aus seinen Funden nur im Freundeskreis vorgetragen. Dann wurde der Kreis immer größer. Inzwischen füllt Schmidt auch die Kneipen in seiner Nachbarschaft mit Zuhörern, wenn er aus seinen Lieblingstagebüchern vorliest. Aus den Aufzeichnungen der jungen Abiturientin Hilde etwa. Oder aus den Notizen von Bruno, der in den 30er-Jahren in Berlin und nur für den Swing lebte. "Er ist ein Draufgänger, seine Welt dreht sich nur um Frauen und ums Tanzen", sagt Schmidt. Brunos Gang nennt sich "Schottenclub", als Anspielung auf den damals berühmten afroamerikanischen Jazzkeller "Cotton Club" in New York. In Schottenröcken ziehen der Anfang 20-Jährige und seine Freunde durch das nächtliche Berlin, pöbeln "SS-Heinis" an, wie Bruno notiert, und machen sich an "Pufferiten" ran - "das war ihr Ausdruck für heiße Frauen", erklärt Theodor Schmidt.

Unerhörter Swing

Schmidt liest den Eintrag vom 30. April 1939 vor, in dem Bruno mal wieder von einer durchtanzten Nacht berichtet. Mit einem Mädchen legt er einen "unerhörten Swing" hin. "Das Publikum nimmt sichtlich Anstoß daran, kann aber nicht umhin, meine 'Beinarbeit' zu bewundern." Die Anmache endet trotzdem erfolglos - an der Haustür des Mädchens. "Ich rede wie'n Professor, habe aber kein Glück; bis vor Kurzem wäre sie mit 'nem festen Boy gegangen und wolle nun wohl endlich ihre Freiheit genießen", notiert Bruno an diesem Tag. "Trotzdem freue ich mich, dass sie mir es ehrlich ins Gesicht sagt.""Er ist ein sehr optimistischer Mensch. Fröhlich und ausgelassen, immer auf der Suche nach dem nächsten Vergnügen", charakterisiert Schmidt seinen "Zögling" - so nennt er die Verfasser seiner Tagebücher.

Wenn er von ihnen spricht, klingt es, als erzähle er von guten Freunden. Stolz berichtet er von ihren Erfolgen, nachsichtig von ihren Verfehlungen. Die Nachnamen der Autoren gibt er nicht preis. Auch wenn er ihre Geheimnisse öffentlich vorträgt, legt er nicht alles bloß. "Ich wäge schon ab, bevor ich mit einem Tagebuch auf Lesung gehe. Wenn ich das Gefühl habe, dass ein Autor niemals gewollt hätte, dass jemand von seinen Erlebnissen erfährt, dann trage ich sie auch nicht vor."

Wovon er nicht öffentlich erzählt, das sind die traurigen Geschichten. Die Tagebücher, die von Selbstmorden, Depressionen, schweren Schicksalsschlägen handeln. Wie die Aufzeichnungen einer reichen Wienerin, die in einem Erbstreit von ihrer Familie verstoßen wird. Nach langen Ehejahren mit einem Mann, der sie schlägt und zu viel trinkt, schreibt sie, dass sie sich und ihre Kinder am liebsten umbringen würde. Dann endet das Tagebuch.

"Ich gebe lieber die positiven Geschichten weiter", sagt Theodor Schmidt. Die Zuhörer sollten nach einer Lesung schließlich glücklich nach Hause gehen.