Kreuzberg

Der Platz der tausend Ideen

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Sören Kittel

Der Döner bei Recep Alagöz kostet jetzt 20 Cent mehr, also 2,50 Euro. Der 47 Jahre alte Kleinunternehmer musste auf die Entwicklung hier am Platz irgendwie reagieren. Er sagt, dass 20 Cent "schon okay" seien. Seine Kunden zahlen das, ohne zu murren. Es seien nicht mehr oder weniger geworden in den vergangenen 13 Jahren, die er am Moritzplatz den Imbiss "Foodbag" betreibt. "Sie sehen nur anders aus."

Der 16,2 Quadratmeter große Arbeitsplatz von Recep Alagöz steht direkt an einem der wichtigsten Plätze für die Kreativszene in Europa. Recep Alagöz war so gesehen der erste Unternehmens-Chef hier am Platz, übernahm ein Geschäft, das es vor ihm schon 22 Jahre hier gab. "Meine ersten zehn Jahre waren eine tote Zeit", sagt er und meint, dass hier nichts passiert sei bis zum Jahr 2009. Mal kam ein Junkie aus dem U-Bahnhof, um sich Silberfolie von ihm zu "borgen". Einmal klaute ihm jemand seine Tasche. Mehr nicht.

Seit zwei Jahren aber ist hat sich die Welt um die "Foodbag" herum gewandelt. Es gibt die Prinzessinnengärten, in denen Recep Alagöz schon Gras gemäht hat, das Geschäft "Schöner wär's, wenn's schöner wär", wo Alagöz Geschenke gekauft hat - und jetzt seit einem Monat steht direkt vor ihm das "Aufbauhaus". "Ich hab dort ein Buch für meine Tochter gekauft", sagt Recep Alagöz. Die Tochter studiere jetzt in den Niederlanden, er selbst hat nie eine Schule besucht. Er hat noch vier weitere Kinder. Für sie steht er jeden Morgen auf, verkauft ab 9 Uhr Halbe Hähnchen, Kaffee und Döner. Es ist seine Geschäftsidee.

Der Moritzplatz war über Jahre ein "Unort", eine achteckige Transitstation zwischen Mitte und Kreuzberg. Seit zwei Jahren aber bleiben Menschen zum ersten Mal seit Jahrzehnten hier stehen, kaufen in Geschäften, essen in Restaurants und vor allem: Sie arbeiten in Firmen, geführt von Menschen, die sich einen Traum erfüllen wollen. Die beiden größten sind der "Aufbau-Verlag" und "Planet Modulor", dem Marktführer für Architektur- und Künstler-Materialien. Doch darüber hinaus gibt es noch Chefs, die in angemieteten Büros des Beta-Hauses oder in angrenzenden Werkstätten arbeiten. Sie alle machen den Moritzplatz zu einem einzigartigen Kreativzentrum in Europa - nicht durch die Menge der Chefs und Chefinnen, sondern weil sie zusammen arbeiten.

Einer von ihnen ist Stefan Canditt, ein Mann, der wie in seine Idee eingewickelt wirkt, wenn er von ihr spricht. Mit 34 Jahren liegt er im Durchschnitt seiner Kreativ-Kollegen. Über den Platz sagt er: "Hier kann man mit einer Idee herkommen und mit einem fertigen Produkt wieder gehen." Zum Thema Gentrifizierung sagt er: "Keiner von uns will hier in drei Jahren mit einem Porsche vorfahren." Und zur Energie im Aufbau-Haus sagt er: "Wir wollen Farbe in die Gegend bringen und ganz sicher nicht nur eine."

Den Businessplan im Nacken

Der Unternehmensgründer hat selbst einige Jahre bei Modulor gearbeitet und gründete im März dieses Jahres seine eigene: "Formulor". Sein Konzept: Materialzuschnitte auch in kleinen Stückzahlen, die er unkompliziert mit einer Laser-Maschine herstellt und in die ganze Welt verschickt. Eine Werkstatt für alle, die einen Internetzugang haben - und eine Idee für ein fertiges Produkt. "Ich habe hier schon meine Maschine angeworfen, als das Haus noch nicht fertig war", sagt er. Er musste. Denn er hatte einen Businessplan aufgestellt, an den er sich strikt halten musste.

In den vergangenen Monaten hat Stefan Canditt Modelle für Architekturstudenten hergestellt, für Künstler, aber auch die Clubmarken für "Kater Holzig", einen von Berlins berühmtesten Tag-und-Nacht-Clubs. Darüber wiederum hörte auch ein Club aus München davon. Dabei ist Canditt selbst fast nie in Clubs - es sei denn im "Prince Charles", der im Aufbau-Haus abends manchmal so lange Feste feiert, bis der hauseigene Kindergarten öffnet.

Dort war auch schon der Döner-Verkäufer Recep Alagöz, er nahm sich mit seiner Frau einen Abend frei, um die neuen Nachbarn kennen zu lernen. Er mag diese Neuanrainer, scherzt mit einigen von ihnen, wenn sie an seine Dönerbude kommen und sich ihr eigenes "kreatives Menü" zusammenstellen. "Ich hätte gern diese Tomate und diese dort in meinem fleischlosen Döner", sagt ein Kunde grinsend mit weißem Hemd und Pullover. Alagöz kontert: "Kannst du haben, kostet aber fünf Euro Aufschlag." Das graue Aufbau-Haus hinter ihm wirkt plötzlich viel bunter.

Bei einem Rundgang wird deutlich, wie eng verzahnt die Neu-Platzbewohner miteinander sind. Rainer Zeller stellt mit seiner Firma "Sonozen" Einzelstück-Lautsprecher her - mit Materialien von Modulor. Und er sitzt auf einer Couch von Minimum, die hier Möbel verkaufen. Linda Linkle bietet mit ihrem "Nähinstitut" Kurse auch für völlig ungeübte Hobby-Schneider an - auch mit Stoffen von Modulor. Und die Werbung wird in der hauseigenen Druckerei bestellt. Sie alle treffen sich zum Mittag in den benachbarten Prinzessinnengärten oder im hauseigenen Restaurant "Coledampf". Da sitzen dann Profi-Fotografen, Mitarbeiter des Jugendzentrums, Theatermacher, Maskenbildner, Türklinkendesigner und der Inhaber einer Firma, die individuelles Mosaik auf Wände kleben kann. Das alles neben Regalen voller Holz, Kunststoffe, Metalle, Papier und Schlüsselanhänger aus Filz.

Wer sich von dieser Materialschlacht und den vielen Möglichkeiten erschlagen fühlt, der kann sich in das Café M1 setzen und Limonade trinken. Der Sichtbeton beruhigt und der Blick nach rechts geht auf einen Innenhof, in dem früher einmal Berlins größter Biergarten stand. 2000 Gäste hatten hier Platz, im Café M1 vielleicht 20. Es ist so neu, dass das Kassensystem noch nicht alle Getränke kennt. "Was kostet denn so was normalerweise woanders?", fragt die Kellnerin, als sie die Kräuterbrause bringt. Man einigt sich schulterzuckend auf 2,50 Euro, rein zufällig der Döner-Preis vor der Tür.

"Wir passen genau hierher"

In diesem Café sitzt auch immer wieder Andreas Krüger, einer der Gründer von "Planet Modulor". Er weiß nicht nur alles über diesen Platz, das frühere Klavierhaus von Bechstein, das Kaufhaus Wertheim, und die ungenutzten U-Bahnschächte im Untergrund. Er war es auch, der im Jahr 2007 die Idee zu diesem Kreativenzentrum hatte, als es im Liegenschaftsfonds um die Zukunft des Moritzplatzes ging. Einige wollten ein Einkaufszentrum, andere einen Bürokomplex, doch dann signalisierte ihm ein Politiker: Es gebe die Möglichkeit der Direktvergabe des Geländes - "wenn die Idee dem Senat gefalle". Krügers Vorstellung war im Grunde ein "Palast der Republik des Westens", er wollte ein Haus, in das jeder hineingehen und etwas für sich entdecken kann. Ähnlich wie Stefan Canditt klingt er wie ein Unternehmer-Philosoph, wenn er spricht. "Meine Chancen", sagt Andreas Krüger, "standen bei ein Prozent." Ein Jahr später hatte er mit dem Aufbau-Verlag auch einen Investor gefunden.

Der Verlag hatte eine lange Reise durch Berlin hinter sich. Er stand schon am Hackeschen Markt und an der Lindenstraße, gleich um die Ecke. Von seinem Fenster im oberen Stock blickt René Strien auf den Kreisverkehr. Der Programmleiter des Verlags mag die Netzwerk-Stimmung am Platz. "Auch Buchverlage können kreativen Input von außerhalb gut gebrauchen", sagt er. "Hier haben wir gelernt, zielgerichteter zu fantasieren." Sein Verlag habe sich in den letzten Jahren stark verjüngt. Die Lektoren spielen in der Pause Kicker oder Tischtennis, und auch er mit seinen 58 Jahren spielt manchmal mit. "Wir passen genau hier her", sagt er, "und wollen uns organisch hier einfügen."

Das wird dadurch begünstigt, dass schon zwei Jahre vor der "Aufbau"-Eröffnung hier Projekte entstanden, die es alle heute noch gibt. Das Geschäft "Schöner wär's wenn's schöner wär" feiert kommendes Wochenende sein zweijähriges Bestehen. Es verkauft Design-Lampenschirme, ökologische Teekannen und andere Dinge, auf die man gern schaut. Die Inhaberinnen wollten eigentlich mit ins Aufbau-Haus ziehen, konnten aber nicht so lange warten. Aber die Kontakte sind bis heute sehr eng, heißt es, nicht nur geschäftlich, sondern: freundschaftlich.

Das Ende der Gärten?

Auch die Arbeiter von der Prinzessinnenstraße sind Platz-Freunde. Das Beta-Haus steht seit 2009 in der Prinzessinnenstraße, ein alternativer Büro-Komplex für rund 200 eigene Chefs, die sich tage-, wochen- oder monatsweise einmieten. Jeden Donnerstagmorgen halb zehn sitzen sie im Erdgeschoss an einem langen Tisch bei Croissant und Heidelbeermarmelade und erzählen, woran sie gerade arbeiten. Wenn nur einer am Tisch kein Deutsch versteht, wechseln alle ins Englische. Sie berichten dann von ihren Ideen: eine Onlineplattform für Wohnungsmakler, eine literarische Stadtführung für Berlin oder ein Psychotest für Großfirmen. Manchmal sitzen hier auch Gäste von Großfirmen wie SAP oder Daimler am Tisch oder es kommen Delegationen aus Dänemark und Frankreich. So etwas wie den Moritzplatz hätten sie selbst gern, sagen sie dann.

Dabei ist der Platz noch lange nicht fertig. Wenn die Pläne des Investors und des eigentlichen Kopfes hinter dem Aufbau-Haus, Matthias Koch, aufgehen, kommen demnächst noch mehr Kreative in diesen Kiez. In den kommenden Monaten wird über das Parkplatz-Gelände neben dem Aufbau-Haus entschieden. Laut Koch könnte in dieser Baulücke eine Kunsthalle Platz finden oder ein Kaufhaus oder etwas ganz anderes. Auch das Gelände der Prinzessinnengärten könnte eines Tages noch Bauland werden. Schließlich seien die Gärten lediglich als Zwischennutzung geplant gewesen.

Robert Shaw, einer der Betreiber des Garten-Projekts, nennt es lieber "Pionier- oder Perspektivnutzung". Er will die Prinzessinnengärten auch im nächsten Frühjahr öffnen. "Wir sorgen hier mit dem Garten für eine soziale Aktivierung des Kiezes", sagt er. Zu ihnen sind im Sommer bis zu 1200 Kreuzberger gekommen und haben geholfen, Unkraut zu jäten oder Fenchel zu ernten. Er will deshalb, dass die Anwohner mitreden dürfen, was hier am Platz gebaut wird. "Uns geht es nicht darum, auf jeden Fall hier zu bleiben", sagt er. "Wir wollen, dass das alles den Bewohnern mehr bringt als steigende Mieten." Im Winter zieht Shaw mit seiner Mittagsküche in den Club des Aufbau-Hauses, ein weiteres Ergebnis von Zusammenarbeit.

Für Recep Alagüz steht die große Veränderung unmittelbar bevor. Sein Imbiss "Foodbag" soll bis Mitte November vor dem Aufbau-Haus verschwunden sein. Er zieht auf den Parkplatz nebenan. Die rund 2500 Euro muss er selbst dafür zahlen. Das ärgert ihn ein bisschen, aber das werde schon gehen, sagt er. Er bekommt dafür auch etwas mehr Platz und will sein Sortiment erweitern. "Dann gibt es bei mir auch Backwaren", sagt er und sieht so aus, als sei das nicht die einzige Idee, die in seinem Kopf auf eine Realisierung wartet.