Interview

"Ein Gerichtsverfahren kann keine Therapie ersetzen"

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Erika Schreiber ist seit 1985 Anwältin in Berlin, hat rund 700 Mandantinnen vor Gericht vertreten - meist Opfer sexueller Gewalt. Als Vorsitzende des Vereins Nebenklage e.V. berät sie Opfer von Vergewaltigungen und setzt sich rechtspolitisch für sie ein. Mit ihr sprach Sören Kittel.

Berliner Morgenpost: Frau Schreiber, Connys Fall ist einer von vielen. Sie ist wegen der Bewährungsstrafe sehr enttäuscht.

Erika Schreiber: Viele denken zunächst, eine Bewährungsstrafe sei keine Strafe. Aber das stimmt nicht. Meines Erachtens ist für viele Opfer nicht die Höhe der Strafe entscheidend, sondern dass sie dazu beigetragen haben, dass Täter zur Verantwortung gezogen wurden.

Berliner Morgenpost: Raten Sie jungen Opfern von sexueller Gewalt grundsätzlich zur Strafanzeige?

Erika Schreiber: Das mache ich immer vom einzelnen Fall abhängig, insbesondere wie die Beweissituation ist, ob auch objektive Beweismittel vorhanden sind wie DNA-Spuren, und ob das Opfer einer Straftat der psychischen Belastung eines Strafprozesses gewachsen ist. Letztlich aber erlebe ich es selten, dass Frauen nach dem Strafprozess enttäuscht sind. Aus meiner Praxis sind mir etliche Fälle bekannt, wonach Frauen, die keine Anzeige erstattet haben, noch Jahre später darunter leiden und dies bereuen.

Berliner Morgenpost: Hat denn der Freispruch im Fall Kachelmann einen Einfluss auf die Entscheidung von Opfern, Anzeige zu erstatten?

Erika Schreiber: Es ist durch diesen Fall der Eindruck erstanden, dass das Opfer einer solchen Straftat keine Chance hat. Das stimmt aber nicht. Was stimmt, sind die hohen Anforderungen an die Qualität der Aussage der Belastungszeugin. Allerdings stützt der Fall das Vorurteil, dass Vergewaltigungsopfer sich die Tat ausdenken. Das aber ist nach meiner Erfahrung die absolute Ausnahme. Opfer solcher Straftaten sollten sich gut beraten lassen.

Berliner Morgenpost: Warum sieht sich ein Opfer schon bei der ersten Befragung Zweifeln gegenüber?

Erika Schreiber: Es gibt häufig die Erwartung von Opfern, dass die Polizei ihnen glaubt, wenn sie Anzeige erstatten. Aber die Ermittlungsbehörden, also hier Polizei und Staatsanwaltschaft, müssen von Gesetzes wegen neutral sein und alle Beweise, für oder gegen die Tat, prüfen. Wenn die Betroffenen das wissen, gehen sie damit gelassener um. Opfer müssen wissen, dass sie berechtigt sind, schon für die erste polizeiliche Vernehmung einen Anwalt hinzuziehen können, der sie unterstützt.

Berliner Morgenpost: Hat sich in den vergangenen 25 Jahren viel verändert?

Erika Schreiber: Auf der gesetzlichen Ebene ja. Die Rechte der Opfer wurden gestärkt, und die gesetzlichen Strafrahmen für die Täter wurden teilweise erweitert, Mindeststrafen erhöht. Seit 1998 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Es gibt mehr Möglichkeiten, Schadensersatz und Schmerzensgeld im Verfahren als Adhäsionskläger geltend zu machen.

Berliner Morgenpost: Geht es denjenigen Opfern, die ihren Täter anzeigen, auf lange Sicht besser?

Erika Schreiber: Ein Verfahren kann keine Therapie ersetzen.Aber die Anzeige ermöglicht, den Opferstatus zu überwinden, indem die Betroffenen um gesellschaftliche Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts kämpfen. Sie können sagen: Ich habe die Tat nicht einfach hingenommen, ich habe mich gewehrt und habe damit auch gezeigt, dass ich nicht Opfer bleiben will. Dies kann Genugtuung erzeugen.

Berliner Morgenpost: Was muss sich im deutschen Rechtssystem noch ändern?

Erika Schreiber: Bisher ist die Nebenklage im Jugendstrafverfahren nur eingeschränkt möglich, das sollte erweitert werden. Das Gleiche gilt für das Adhäsionsverfahren. Für eine erste anwaltliche Beratung sollten die Kosten durch die Staatskasse übernommen werden. Erfreulich ist, dass im März 2011 die Verjährungsfrist für zivilrechtliche Ansprüche von Opfern sexueller Gewalt von nur drei Jahren auf 30 Jahre verlängert wurde. Das ist ein guter Weg.