Die Straßen von Berlin - Heute: Unter den Linden

Hier lässt sich erleben, was Berlin ausmacht

| Lesedauer: 14 Minuten
Beate Wedekind

Unter den Linden hat Besuch. Sehr viel Besuch. Ein Tag im Gewühl zwischen Reisebussen, Rikschafahrern und glühenden Berlinfans

Unter den Linden!

Ja, Freund, hier unter den Linden

kannst du dein Herz erbaun.

Hier kannst du beisammen finden

die allerschönsten Frau'n.

Sie blühn so hold und minnig

im farbigen Seidengewand.

Ein Dichter hat sie sinnig

wandelnde Blumen genannt... hat Heinrich Heine zu Besuch in Berlin im Jahr 1822 verzückt gedichtet.

Unter den Linden 2011: Zeitläufte später, nach Krieg und Zerstörung, ideologischer Trennung, Wiederaufbau und Neupositionierung, ist's auf der ehemaligen kaiserlichen Flaniermeile nichts mehr mit sinnig wandeln. Schon kurz nach Sonnenaufgang, wenn der Verkehr noch schlummert (und die Baustellen noch stumm sind ...) finden sich die ambitionierten Frühaufsteher auf der auch heute noch mit Fug und Recht als Prachtboulevard apostrophierten Straße ein.

Zwischen den Reihen der sattgrünen Linden joggen zwei junge Frauen auf der Mittelpromenade, umrunden das majestätische Reiterstandbild König Friedrichs II., grüßen den Herrn im feinen Zwirn, der, bewappnet mit einem Staubtuch, liebevoll den schwarzen Sockel poliert. Einsam macht ein junger Chinese auf dem Bebelplatz seine morgendlichen Tai-Chi-Übungen. Die Alte Bibliothek, der prachtvolle Barockbau aus dem 18. Jahrhundert, glänzt vor ihm in der Morgensonne. Der gegenüber liegenden Baustelle der Staatsoper hat er den Rücken zugewendet. Eine Dame mit Hut lässt ihren Hund an der langen Leine gen Pariser Platz laufen. Ein Müllmann im Berliner Orange kehrt schwungvoll den Bürgersteig vor der russischen Botschaft.

Langsam fahren, viel erzählen

Um sieben Uhr macht das Café Einstein auf, eine Institution, in der die Politiker um diese Uhrzeit frisch rasiert und schweigsam bei einem guten Kaffee erstmal ausführlich die Tagespresse studieren, um sich später an den weiß gedeckten Tischen im hinteren Bereich mit Lobbyisten zu treffen. Die Büros des Bundestags sind nur einen Steinwurf entfernt.

Derweil erobert der Berufsverkehr die Linden. Stop and Go ohne Unterlass bis zur Dämmerung. Hat sich eigentlich jemals jemand Gedanken darüber gemacht, dass man den Verkehr über die Parallelstraßen leiten könnte, um aus diesem Boulevard wieder eine Flaniermeile zu machen zu? Um dieser Straße willen, die aus jedem ihrer 1245 Meter rauf und 1245 Meter runter soviel mehr als einen Hauch deutscher Geschichte umweht?

Theo Gnauck wäre das nur Recht. Der Rikschafahrer bezeichnet die Luftverpestung Unter den Linden zwar resigniert lächelnd als sein Berufsrisiko, aber als sein Fahrgast kann es einem schon schlecht werden. Besonders, wenn er an einer Ampel neben einem der Sightseeing-Busse anhalten muss. Die bestimmen das Straßenbild schlagartig ab zehn Uhr. Beinahe im Schritttempo fahren die Doppeldecker dicht an dicht Unter den Linden entlang, versperren den Touristen aus aller Welt tatsächlich den Blick auf die andere Straßenseite, die jetzt in Gruppen vom Pariser Platz bis zum Alexanderplatz diesen Teil von Berlin entdecken wollen.

Wer auf Theo Gnaucks rotem Sitz seiner tatsächlich aus China stammenden Fahrradrikscha Platz nimmt, der kann sich auf eine gut informierte und mit Anekdoten gespickte Tour gefasst machen (40 Euro die Stunde; zwei Personen und ein Kind passen auf seine Bank). Der Berliner, vor 42 Jahren in Prenzlauerberg geboren und nach kurzer Unterbrechung auch wieder dort lebend, fährt seit fünf Jahren Rikscha. Sein Standplatz ist der Pariser Platz. Seine ökonomische Maxime ist: Viel erzählen, langsam fahren. An der Humboldt-Universität hat er Kulturwissenschaften studiert und das Studium abgebrochen. Durch eine Zeitungsanzeige kam er auf die Idee, Rikschafahrer zu werden. Und es funktioniert, er ist gern sein eigener Herr.

Am liebsten fährt Gnauck Mütter mit Kind, weil Mütter ihren Kindern gern etwas bieten wollen. Gleich danach stehen Freundinnen auf Kulturwochenende in Berlin hoch bei ihm im Kurs. Oft wundert er sich, wie gut die sich vorab informiert haben. Aber dann greift er tief in seine Anekdotenkiste hinein und zieht Asse raus, wie die Geschichte von Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der so was wie einen Deckmantel zu besitzen scheint, jedenfalls, wenn er unerkannt mit seinem russischen Adoptivsohn hier unterwegs ist. Oder indem Gnauck auf das Fenster des Hotel Adlon zeigt, aus dem Michael Jackson damals sein Kind herausgehalten hat. Männer, so Theo Gnauck, fahren lieber die schnittigen eiförmigen Fahrradtaxis mit Motor, Frauen ziehen seine China-Variante vor.

Unter den Linden ist für ihn die ideale Piste, und er ist heilfroh, dass er nicht Koch geworden ist, was sein Vater, der an der Humboldt-Universität Unter den Linden studiert hat, seinerzeit vorschlug. Sein Schülerpraktikum zu DDR-Zeiten in der Küche des (mittlerweile abgerissenen) Hotel Unter den Linden Ecke Friedrichstraße hat Theo Gnauck nach wenigen Tagen hingeschmissen, er konnte den schroffen Befehlston dort nicht ertragen. Ein Mann wie er liebt es nun mal, sein eigener Herr zu sein und das Leben easy angehen zu lassen. Wenn es dunkel wird, parkt er seine Rikscha in einer Garage am Potsdamer Platz und fährt mit dem Fahrrad nach Hause.

Enno Lenze dagegen kommt schon mal mit seiner Kawasaki ZX9-R "Ninja" zur Arbeit. In seinem Blog gibt er mehr Details preis: 141 PS, 268 km/h Höchstgeschwindigkeit, Zubehör: McCoi-Kettenöler, iPhone-Halterung, Devil 4-in-1 Auspuffanlage, Nautilus Compact Hupe, aufgepolsterte Sitzkissen ...

Das passt. Denn Enno Lenze ist gern auf der Überholspur. Der Unternehmer, 28, geboren im Ruhrpott, hat schon viel gemacht und erlebt in seinem Leben. Als Kind hat er mit Achim Rohde auf der Bühne des Schauspielhauses in Bochum gestanden, mit seinen Eltern, Entwicklungshelfern, hat er seine Kindheit in Ruanda verbracht, nach dem Abitur Jura und Kriminologie studiert, sich mit IT-Sicherheit beschäftigt, einen 3G-Store konzipiert und geleitet. Hört sich verrückt an, aber der Mann liebt das Abenteuer, ist ständig auf der Suche nach neuen Erfahrungen, er hat seine Grenzen noch nicht gefunden. Er will alles.

Kein Wunder also, dass sein Unternehmen "Alles über Berlin" heißt und an einer Adresse angesiedelt ist, die besser kaum sein kann: Unter den Linden 40. Zum ersten Mal hat er genau hier gearbeitet, da war er erst 15: Ehrenamtlich hat Schüler Enno aus Bochum zum 350. Jubiläum des Berliner Prachtboulevards bei der Ausstellung "Unter den Linden - gestern und heute" der Gesellschaft Historisches Berlin mitgemacht. Das war 1997.

Beseelt von der Geschichte Berlins

Wir wollen hier aber nicht den Roman des von Berlin besessenen Herrn Lenze schreiben, deshalb überspringen wir ein paar Jahre. Seit diesem Jahr ist er Verleger von ambitionierten Berlin-Büchern, hat im letzten Jahr den maroden Berlin Story-Verlag übernommen, samt den besten Mitarbeitern und seinem Gründer, Wieland Giebel, dem Berlinkenner per se. Ein geschickter Schachzug, von dem sowohl der Senior als auch der Junior überzeugt sind. Generationen können gut miteinander, wenn sie ihre Leidenschaft teilen. Denn wie sehr Enno Lenze auch im Hier und Heute und im Übermorgen lebt, beseelt ist er von der Geschichte Berlins. Dabei ist ihm jede Gefühlsduselei, jede übertriebene Nostalgie fremd. Ihn interessiert, wie Berlin wurde, was es ist. Und was einen wie ihn so begeistert, das muss sich bitteschön auch erfolgreich vermarkten lassen. Deshalb "Alles über Berlin", ein schicker Laden, in dem nach allen Regeln der Verkaufskunst, aber mit Geschmack und Stil, Souvenirs verkauft werden. Nur Dinge, die ursächlich etwas mit Berlin zu tun haben. Auch Originalmauerstücke und T-Shirts, auch Miniatur-Trabis, na klar. Ein echter steht im Ladeneingang, inszeniert mit Karacho, wie er die Berliner Mauer durchbricht. Ein Schild stellt sich als ungewöhnlich heraus: "Bitte steigen sie ein" steht drauf und nicht "Einsteigen verboten". Natürlich werden auch die Bücher verkauft, die der Berlin Story-Verlag herausgibt, 25 im Jahr. Verkaufsrenner sind allerdings die roten und grünen Ampelmännchen in allen Variationen.

Lenzes Team ist ein Weltteam, mit Praktikanten von Universitäten in Asien und Südamerika. Zur Zeit sprechen die Mitarbeiter von "Alles über Berlin" 15 Sprachen fließend. Mit sieben Sparchen steht Elena Boedecker an der Spitze, sie leitet den Laden, stammt aus der Ukraine, arbeitet seit zehn Jahren Unter den Linden und kennt keine schönere Freizeitbeschäftigung, als abends den Katalog des neuen Berlin-Museums ins Russische zu übersetzen, das in wenigen Tagen auf 350 Quadratmetern als neuer Teil von "Alles über Berlin" eröffnet wird. Eigenhändig überprüft Enno Lenze, von hoch oben auf einer wackeligen Leiter, dass das Museumsschild auch akkurat in der Mitte zwischen den Gazevorhängen mit Szenen von Unter den Linden hängt.

Touristen sind die Flaneure von heute

Auch Elisa Berker und Niklas Martin kommen aus dem Ruhrgebiet. Allerdings sind die Abiturientin und der Student einer Polizeihochschule nur als Touristen hier. Was heißt nur: Touristen sind die neuen Flaneure Unter den Linden. Sie laufen in Gruppen oder allein, fahren Rollerscates oder leihen sich Fahrräder. Sie wollen Unter den Linden erleben, was Berlin ist. Elisa und Niklas kommen mindestens einmal im Jahr nach Berlin, manchmal mit einer ganzen Freundesclique, einfach nur, um in den Clubs zu feiern. "Dieses Mal wollen wir mehr über Berlin erfahren, vielleicht wollen wir eines Tages hierher ziehen."

Die schöne Elisa könnte als moderne Version der von Heinrich Heine als hold und minnig bewunderten Frauen durchgehen. Graziös fährt sie neben ihrem Freund auf dem Leihfahrrad Unter den Linden in Richtung Osten. Er möchte bei Mercedes halt machen und dann auf der anderen Straßenseite bei Bugatti. Sie will unbedingt ins Guggenheim-Museum und danach im Garten des Opernpalais einkehren. Er will rüber zu den fliegenden Buchhändlern der Humboldtuniversität. Dann weiter zum Zeughaus. Im Deutschen Historischen Museum wird gerade die für den Polizeistudenten besonders interessante Ausstellung "Ordnung und Vernichtung - Die Polizei im NS-Staat" gezeigt.

Ach, wie schade, dass Niklas und Elisa die beiden Damen nicht getroffen haben, die am späten Nachmittag im Café Einstein zusammen sitzen. Beide hätten Niklas und Elisa berichten können, wie das damals war, im NS-Staat. Annemarie Seidel ist 78, Anna Anders 92. Beide sind pensionierte Lehrerinnen. Frau Seidel, ganz Dame in ihrem Kostüm in der Farbe einer reifen Aprikose, trägt verwegen eine weiße Baseballkappe verkehrt herum. Sie hat Allüre und man kann sich gut vorstellen, wie sie im Chor der des Wiener Operettentheaters in den Schulferien in Europa auf Tournee war. Natürlich ist sie auch Unter den Linden aufgetreten. Frau Anders ist eine ihrer besten Freundinnen, ihr Neffe heiratet und sie werden das junge Glück auf einer Bootsfahrt auf der Spree feiern. Die Berlinerin aus Schlachtensee und ihre Freundin aus dem Westen sind so ins Gespräch vertieft, dass sie weder Wim Wenders, den Regisseur, noch Dieter Bohlen, den Superstar, bemerken, die an ihnen vorgehen und ihnen, den originellen Damen, gern ihre Referenz erwiesen hätten. Man kann eigentlich sogar davon ausgehen, dass die Damen sich für die Herren schlicht nicht interessieren.

Es dämmert Unter den Linden. Der Verkehr ebbt langsam ab, die Sightseeing-Touren sind beendet, die Busse in den Nebenstraßen geparkt. Ein Tag geht zur Neige. Es wird leicht und heiter nach der Hektik des Alltags.

Als würden sie um das Heinrich Heine'sche Entzücken über die allerschönsten Frauen Unter den Linden wissen, eilt eine Clique von eleganten jungen Frauen leichtfüßig über den Pariser Platz. Ihre frühlingshaften Kleider könnten aus Seide sein, sie flattern im Abendwind. Im Hotel Adlon, Unter den Linden 77, feiert eine von ihnen heute ihren Abschied vom Junggesellinnenleben.

Was fehlt, ist die festliche Erleuchtung der Staatsoper, das Gebäude wird ja gerade renoviert. Und jetzt werden wir doch noch nostalgisch: Als schönste Geschichte in dem vom Berlin Story-Verlag herausgegebenen Buch "Kommen und gehen - Unter den Linden - Eine Szenenfolge deutscher Geschichte" wird in einem köstlichen Kapitel jener Abend am 19. Mai 1789 beschrieben, als Wolfgang Amadeus Mozart inkognito einer Aufführung der "Entführung aus dem Serail" beiwohnte und, unzufrieden mit dem Dirigenten, selbst den Taktstock ergriff. Das Publikum, samt Damen mit Schoßhündchen, das war damals üblich, erkannte das Genie und geriet außer Rand und Band.

Das hätte Heinrich Heine, das hätten Enno und Theo, Niklas und Elisa, Annemarie und Anna und WIR natürlich auch gern erlebt. Das wird nun nicht mehr passieren Unter den Linden. Aber wer Augen und Ohren und Herz und Verstand nutzt, der wird auch 2011 auf diesem außergewöhnlichen Boulevard etwas Außergewöhnliches erleben.

"Wir wollen wir mehr über Berlin erfahren, vielleicht eines Tages hierher ziehen".

Elisa Berker und Niklas Martin, Touristen