Theaterprojekt für Straßenkinder

"Ich weiß jetzt, was ich kann"

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Katrin Lange

An einem Winterabend waren die Straßenkinder verschwunden. Die Sozialarbeiter der Kontakt- und Beratungsstelle (KuB) fuhren alle Stationen ab, Bahnhof Zoo, Alex, Ostbahnhof, Kurfürstenstraße. Nichts. Niemand. Kein bekanntes Gesicht. Sie verstanden nicht, was passiert war, bis ihnen einfiel: Es war der Tag der Aufführung. "Ihre" Straßenkinder standen auf der Bühne oder saßen im Zuschauerraum. Auf jeden Fall waren sie runter von der Straße. Und wenn auch manche nur für Stunden.

Robert Hall, Leiter der Hilfeeinrichtung für Jugendliche in Not, erzählt gern die Geschichte, um das Ziel seiner Arbeit zu verdeutlichen. Es gibt nur eins: die Kinder von der Straße zu holen. Dabei ist das Theaterprojekt für Straßenkinder ein wesentlicher Baustein geworden. Seit 1997 erarbeiten die obdachlosen jungen Menschen Jahr für Jahr drei Monate lang ein neues Stück. Am 23. Dezember wurde das Projekt der Beratungsstelle als "Ausgewählter Ort im Land der Ideen" ausgezeichnet. In diesem Wettbewerb werden innovative Ideen, Kreativität und visionäres Denken anerkannt.

"Woyzeck ist tot! Woyzeck lebt!"

Im Moment studieren die Jugendlichen zwischen 13 und 20 Jahren "Woyzeck ist tot! Woyzeck lebt!" ein. Nur noch wenige Probentage liegen vor ihnen, bevor sie im Januar drei Vorstellungen an der Universität der Künste geben. Einer nach dem anderen kommt in die Beratungsstelle am nördlichen Ende der Fasanenstraße herein, klopft den Schnee ab, setzt sich an den großen Tisch. Sabrina hat sich eine Wolldecke umgelegt und trinkt heißen Tee. Sie glüht und hat Schüttelfrost. Patrick holt sich noch ein Spiegelei auf Brot.

Dann geht es los. Mit energischer Stimme gibt Regisseurin Margareta Riefenthaler Anweisungen - die Atmosphäre ist nicht anders als bei anderen Laien-Theatergruppen. Mit ein paar kleinen Ausnahmen. Hund Herkules zieht an der Leine und jault, weil er zu seinem Frauchen will. Und immer wieder geht die Tür auf, und Nachzügler treffen ein. Es wird viel geraucht, die Luft steht.

Die Regisseurin lässt die Szenen immer und immer wiederholen, springt auf, geht dazwischen, spielt vor. Es ist das zwölfte Theaterstück, das sie mit den Jugendlichen von der Straße macht. "Wir sind hier kein Klamauk und kein Schülertheater", betont sie. Sie wollen ernst genommen werden und den Zuschauer anspruchsvoll unterhalten. Wer mitmache, bekomme zunächst schauspielerische Grundlagen beigebracht. Und jeder müsse sich an das Textbuch halten.

Franci, in schwarzen Schnürstiefeln, Schiebermütze und Piercing im Gesicht, ist schon zum zweiten Mal beim Theaterspiel dabei. Die 17-Jährige ist in Hellersdorf aufgewachsen und noch bei ihrem Vater gemeldet. Doch der lebe in einer Ein-Zimmer-Wohnung, begründet sie ihr Umherstreunen. Die Schule hat sie geschafft, doch dann ging es nicht weiter.

Vor drei Jahren stand sie das erste Mal mit den Straßenkids auf der Bühne. "Krass positiv" beschreibt sie diese Erfahrung. In eine Rolle zu schlüpfen, bedeute für sie, die Welt aus anderen Augen zu sehen.

Falko aus Eisenhüttenstadt ist neu in der Theatergruppe. Er hat Koch gelernt, wurde arbeitslos und landete so auf die Straße. Es ist ein humorvoller Typ, bereit zu erzählen. Er komme gern, weil die Proben Spaß machen, sagt er. Seit er dabei sei, habe er mehr Selbstvertrauen. "Ich weiß jetzt, was ich kann", sagt der 20-Jährige. Sein Ziel: einen Platz in einer betreuten Wohngruppe bekommen und einen Job.

Robert Hall, der Leiter der KuB, hatte vor 14 Jahren nach einem Weg gesucht, besser an die Straßenkinder heranzukommen. Zu 1200 nehmen die 16 Mitarbeiter, davon zwölf ehrenamtliche, jedes Jahr Kontakt auf, die meisten sind aus Kleinstädten geflüchtet. "Die wollen nichts von Sozialarbeitern wissen und mit Pädagogen darf man ihnen schon gar nicht kommen", sagt Hall. Da kam er mit einer befreundeten Regisseurin auf die Idee, die Jugendlichen mit Theaterspiel von der Straße zu locken. Es funktionierte. Nicht zuletzt, weil die Jugendlichen in der Probenzeit Unterkunft, Essen, BVG-Fahrschein und eine kleine Gage erhalten. Die Kosten von bis zu 10 000 Euro jedes Jahr werden über Spenden getragen. Der beste Lohn aber ist der Applaus nach der Vorstellung.

Robert Hall hat sich die Mühe gemacht und alle Straßenkinder, die im vergangenen Jahr mitgemacht haben, aufgespürt. "Studiert hat keiner", sagt er lächelnd. Aber sie seien alle von der Straße runter und in einfachen Beschäftigungsverhältnissen unter gekommen.

In den ersten drei Stücken spielten sich die Straßenkids noch selbst, es ging um Ängste vor der Polizei, Schnorren, schreckliche Elternhäuser und den besten Freund, der an Heroin gestorben ist. "Doch dann wiederholte sich alles nur", so der KuB-Leiter. Regisseurin Margareta Riefenthaler schreibt seitdem ein Skript, das den roten Faden vorgibt. Von Probe zu Probe wird das Stück dann mit den Jugendlichen entwickelt.

Unsicherheit bis zum Schluss

Dabei muss die Regisseurin flexibel sein. Sie weiß nie, wer kommt, wer durchhält. 40 bis 50 durchlaufen die Probenphase, knapp 20 stehen schließlich auf der Bühne. Es ist auch schon vorgekommen, dass der Hauptdarsteller eine Woche vor der Aufführung verschwunden war. Alles Hoffen, er würde doch noch im Theater erscheinen, war vergeblich. Den schwer alkoholkranken Jugendlichen hatte die Panik erfasst. In Windeseile musste das Stück umgestellt werden. Doch: "Es ist noch nie eine Vorstellung ausgefallen", sagt Robert Hall.

Eins ist sicher: Die Regisseurin braucht starke Nerven. "Bis zum Schluss ist die Unsicherheit da", sagt Margareta Riefenthaler. Die Arbeit mit den "schwierigen Menschen" habe sie toleranter werden lassen. Sie schätzt die Authentizität der Jugendlichen, die in jeder Sekunde sie selbst sind.

Als einer in der Probe dazwischenquatscht, schreit Franci ihn an: "Halt die Klappe, wir proben hier". Der Gescholtene verlässt daraufhin den Raum und es kann weiter gehen. Franci hat diesmal eine Hauptrolle in dem Stück und darauf ist sie stolz. Sie will das Fachabitur nachholen und Sozialpädagogik studieren. "Ich weiß, wie es ist, ohne Hilfe dazustehen", sagt das junge Mädchen. Deshalb wolle sie ein Lichtblick für andere sein, die es schwer haben. Für Franci, Falko und einige andere ist schon heute klar: Im nächsten Jahr werden sie beim Theater wieder dabei sein.

Vorstellungen: 7., 8. und 9. Januar 2011, um 20 Uhr, in der Universität der Künste, Fasanenstraße 1b in Charlottenburg. Eintrittskarten kosten 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Vorbestellung sind unter der Telefonnummer 61 00 68 00 möglich.