Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Benedikt XVI. kündigte seinen offiziellen Besuch in Berlin an - mit einer Rede vor dem Bundestag. Sterzinskys Rücktrittsgesuch blieb unerledigt.
Das Leben dieses Kirchenmanns: eine für viele Deutsche des Jahrgangs 1936 typische Biografie. Der Kardinal stammt aus Warlack (Ostpreußen). Seine große Familie trifft wie Millionen das Schicksal der Vertreibung, sie findet in Thüringen eine neue Bleibe. In Erfurt studiert Sterzinsky Theologie, als 24-Jähriger wird er 1960 zum Priester geweiht. Es folgen Stationen als Kaplan und Pfarrer, 1981 übernimmt er im damaligen Bischöflichen Amt Erfurt-Meiningen die Funktion des Generalvikars. Im Juni 1989 beruft ihn Papst Johannes Paul II. nach vorangegangener Wahl im Domkapitel zum Bischof von Berlin - als Nachfolger des nach Köln transferierten Kardinals Joachim Meisner. Die Mauer steht noch, als er am 9. September 1989 die Bischofsweihe empfängt. Im Frühjahr 1990, die deutsche Wiedervereinigung ist noch nicht vollzogen, kann er Gläubige aus West und Ost zum Katholikentag in Berlin begrüßen. Ein Jahr später wird Sterzinsky Mitglied des Kardinalskollegiums, seit 1994 ist er der erste Erzbischof des 1930 gegründeten Hauptstadtbistums.
"Gott ist immer größer"
Sein schönstes Erlebnis? Der Ostpreuße an der Spree musste nie lange überlegen: der Besuch von Johannes Paul II. und die Rede des Pontifex am 23. Juni 1996 am Brandenburger Tor, die in dem Satz gipfelte: "Die Freiheit hat einen Namen: Jesus Christus!" Sterzinskys schwierigste Aufgabe: die Wiedervereinigung seines vier Jahrzehnte geteilten Bistums und eine radikale Strukturreform, die mit dem Verkauf von Kirchen und der Reduzierung der Zahl von Gemeinden verbunden war. Ein finanzieller Kollaps der Erzdiözese konnte 2003 nur dank der Geldspritzen einiger anderer Bistümer abgewendet werden. Schon damals dachte der Kardinal daran, sein Amt aufzugeben. Er blieb, um die schwierige Zeit gemeinsam mit seinem Klerus zu überstehen.
Georg Sterzinsky bekennt sich zu "Gehorsam und Ergebung", das verlangt sein Motto "Deus semper maior" (Gott ist immer größer). Er kann aber auch sehr direkt sein. Anders als mancher Amtsbruder versteckt er seine Meinung nicht hinter dreimal abgesicherten Formulierungen. Gerade einmal vier Monate im Amt, bedauerte Sterzinsky in einem "Welt"-Interview "Unterlassungen" seiner Kirche in der Endzeit der DDR: "Wir hätten unsere Solidarität mit den Oppositionsgruppen deutlicher zum Ausdruck bringen müssen, vor allem nach den Kommunalwahlen vom Frühjahr 1989. Es wäre bewegend gewesen für die Bevölkerung zu wissen, auch die katholische Kirche sagt, was sie weiß, in aller Deutlichkeit." Das hat nicht allen in der Bischofskonferenz gefallen. In der Missbrauchsaffäre des Canisius-Kollegs stärkte der Kardinal dem Aufklärer Klaus Mertes den Rücken, in der Auseinandersetzung um die Pius-Brüder nannte er die Kritik am Papst "verständlich". Zum Fall des schismatischen Bischofs Richard Williamson, der Zweifel am Holocaust geäußert hatte, bemerkte er: "Man kann in Rom nicht so tun, als ob man das nicht gewusst hätte." Auf Internetportalen katholischer Traditionalisten wurde Sterzinsky daraufhin als "Judas von Berlin" geschmäht. Er ließ sich davon nicht beeindrucken, ebenso wenig ließ er sich davon abbringen, für eine volle Wahlfreiheit zwischen Religionsunterricht und dem Fach Ethik einzutreten: "Religion ist eine Wohltat für unsere Gesellschaft." Als "Familienbischof" der Deutschen Bischofskonferenz warnte er vor einer Aushöhlung der ethischen Grundlagen von Ehe und Familie: "Ehe, Elternschaft und Familie gehören unauflösbar zusammen." Den Sonntag zum Alltag zu machen, sei familienfeindlich. Er plädiert für ein Verbot der Sterbehilfeorganisationen, arbeitet in der Migrationskommission des Episkopats mit, wird in den Päpstlichen Migrantenrat berufen und nimmt sich der Asylanten und der "Illegalen" an, vor allem in seiner Erzdiözese. Von der Politik verlangt er, den Schulbesuch von Kindern ohne Aufenthaltsstatus "zügig zu realisieren".
Georg Maximilian Sterzinsky aus Warlack in Ostpreußen ist seit fast 22 Jahren die respektierte Stimme des Katholizismus im weitgehend säkularisierten Berlin. Nach zwei schweren Operationen wurden alle Feiern zu seinem 75. Geburtstag abgesagt. Wird die deutsche Hauptstadt bis zum Papst-Besuch im September einen neuen Erzbischof haben? Darauf haben im Augenblick selbst gut informierte Kirchenvertreter keine Antwort.