Verkehrzeichen

Experten plädieren für ampellosen Tauentzien

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Isabell Jürgens

Was passiert, wenn auf Berlins Einkaufsmeile Nummer eins - der Tauentzienstraße - die grenzenlose Verkehrsfreiheit eingeführt wird, darüber sollte gestern eine Expertenanhörung im Verkehrsausschuss des Abgeordnetenhauses Klarheit schaffen.

Das als "Shared Space" (geteilter Raum) bekannt gewordene Verkehrskonzept mitten im Herzen der City West sieht nach einem Antrag der Grünen vor, den Abschnitt der Shopping-Meile zwischen Wittenbergplatz und Breitscheidplatz so umzugestalten, dass alle Verkehrsteilnehmer sich gleichberechtigt den öffentlichen Straßenraum teilen - ohne Ampeln, Bordsteine oder Schilder. Das Ergebnis der Anhörung fiel jedoch höchst zwiespältig aus.

"Shared Space auf dem Tauentzien macht für uns die Einkaufsmeile zur No-go-area", appellierte Manfred Scharbach vom Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein (ABSV) an die Abgeordneten, den Plänen der Grünen eine Absage zu erteilen. "Wer Bürgersteige und Signalanlagen entfernt, nimmt den Blinden die wichtigsten Orientierungsmöglichkeiten", so Scharbach. Die beabsichtigte Aufwertung des öffentlichen Raums für Passanten und Radfahrer würde klar auf Kosten der Behinderten gehen.

Und auf Kosten des Pkw-Verkehrs, wie Jörg Becker vom ADAC warnte. "In Wahrheit handelt es sich hierbei um die Einführung einer Spielstraße mit Durchgangsverkehr", so der Leiter der Abteilung Verkehr beim ADAC Berlin-Brandenburg. Durch solche Maßnahmen würde der Pkw-Verkehr auf andere Straßen verlagert. "Man sollte dann so ehrlich sein und sagen, dass man hier eine Fußgängerzone will." Generell sei der ADAC jedoch durchaus für Shared-Space-Bereiche auch in Berlin - "beispielsweise in der Altstadt Köpenick oder im geplanten Wohnquartier an der Heidestraße unweit des Hauptbahnhofs".

Bislang ist der 13 000-Einwohner-Ort Bohmte in Niedersachsen der einzige in Deutschland, der am EU-Projekt Shared Space teilnimmt. Aus Bohmte waren deshalb gestern die erste Gemeinderätin, Sabine de Buhr-Deichsel, und ihr Polizeichef eingeladen, um über Erfahrungen zu berichten. Die Gemeinde hatte vor einem Jahr ihre Hauptverkehrsstraße nach dem Gemeinschaftsprinzip umgestaltet. "Wir haben durchweg positive Erfahrungen gemacht", so die Gemeinderätin. Wo vorher jährlich etwa 30 bis 40 Unfälle passiert sind, seien seit der Öffnung des Shared-Space-Bereichs im Mai 2008 bisher nur Bagatellunfälle - also keine Verkehrsunfälle mit Personenschaden - passiert, wobei keiner originär auf das Shared-Space-Prinzip zurückzuführen gewesen seien. Der Verkehr sei auch nicht in die Seitenstraßen abgeflossen, und die alltäglichen Staus in den Hauptverkehrsstraßen hätten sich aufgelöst. "Wir haben nicht weniger Verkehr, aber der Verkehr fällt nicht mehr so störend auf", so die Gemeinderätin. "Wir können das Projekt nur weiterempfehlen." Gerade hinsichtlich der Sicherheit habe sich das System bewährt, weil alle Verkehrsteilnehmer zur Aufmerksamkeit gezwungen würden.

Die Berliner Abgeordneten haben nun Zeit bis zur nächsten Sitzung, um die vorliegenden Stellungnahmen zu prüfen und gegeneinander abzuwägen. Erst dann sollen die Anträge abgestimmt werden. Auch die FDP hatte sich für ein Pilotprojekt in Berlin, wenn auch nicht unbedingt auf der Tauentzienstraße, ausgesprochen.