Krankenhaus Waldfriede

Wiege der Hoffnung

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Regina Köhler

Isabell träumt jede Nacht von der Geburt ihres Sohnes. "Dabei ist das jetzt schon einige Monate her", sagt die zierliche 19-Jährige und streicht sich das lange blonde Haar aus dem Gesicht. "Er sah so zart aus, so wunderschön", die Stimme der jungen Frau zittert, wenn sie von ihrem Kind erzählt.

"Ich habe ihn Janic genannt", sagt sie.

Isabell hat ihren Sohn im Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede zur Welt gebracht und gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben. "Ich hoffe, er wird mich dafür niemals hassen. Aber ich hätte ihm doch nichts bieten können. Nun wird er es besser haben, weil er eine richtige Familie hat", sagt sie. Die 19-Jährige ist froh darüber, dass alles geregelt ist. Ursprünglich hat sie anonym entbinden wollen. Im Krankenhaus hat sie es sich dann anders überlegt: "Ich habe mich für die offene Adoption entschieden. Jetzt kann ich mich jederzeit erkundigen, wie es meinem Sohn geht, ihn später sogar wiedersehen."

Gabriele Stangl, Pastorin im Krankenhaus Waldfriede und Initiatorin der dortigen Babyklappe, kann sich an den ersten Anruf Isabells genau erinnern. "Die junge Frau hatte im Internet herausgefunden, dass man bei uns anonym entbinden kann. Wir haben dann gleich für den nächsten Tag einen Termin gemacht." Das erste Gespräch sei sehr vertraut verlaufen. "Schon nach einer Stunde hat sich Isabell entschieden, ihren Namen preiszugeben, damit ihr Kind später einmal weiß, wer seine Mutter ist und seine Wurzeln kennenlernen kann", erzählt Stangl.

Isabell ist kein Einzelfall. Gegenwärtig ruft fast jeden Tag eine junge Frau im Krankenhaus Waldfriede an und erkundigt sich nach der Möglichkeit, anonym zu entbinden. "Die Lebensperspektiven vieler Menschen werden immer schwieriger", sagt Gabriele Stangl. "Viele verlieren ihre Arbeit, das normale Leben wird immer teurer. Das macht die Angst davor, ein Kind versorgen zu müssen, nur noch größer." Probleme mit den Eltern oder dem Partner seien weitere Auslöser dafür, dass Frauen sich entscheiden, ihr Kind nicht zu behalten.

In Deutschland gibt es gegenwärtig etwa 130 Krankenhäuser, die eine anonyme Geburt ermöglichen. Wegen der rechtlichen Grauzone sind Krankenhäuser zu einem solchen Angebot aber nicht verpflichtet. Im Krankenhaus Waldfriede haben sich in den vergangenen Jahren über 100 Frauen gemeldet, um dort anonym zu entbinden. Nur fünf von ihnen sind am Ende tatsächlich anonym geblieben. Die anderen haben die vertrauensvolle Umgebung und die vielen Hilfsangebote von Gabriele Stangl und ihrem Team dazu gebracht, ihren Namen schließlich doch preiszugeben. "Das ist wichtig für das Kind, es sollte wissen, wer seine Mutter ist", sagt Stangl. Außerdem würden die Frauen immer die Möglichkeit haben, zu erfahren, wie es ihren Kindern geht und vielleicht auch Kontakt zu ihnen aufzunehmen können. Die anonyme Geburt sei hingegen eine Einbahnstraße. Nie wieder würden Frauen, die sich dafür entscheiden, von ihren Kindern hören.

Angst vor den Reaktionen der Eltern

Auch Isabell erinnert sich noch gut an das erste Telefonat mit Gabriele Stangl. "Ich hatte solche Angst davor und den Anruf immer wieder hinausgeschoben", sagt sie. Sie habe sich gefragt, was die Leute wohl von ihr denken würden. "Schließlich habe ich meine Schwangerschaft vor allen verheimlicht und mir sogar selbst eingeredet, dass alles in Ordnung ist und ich nur ein wenig zugenommen habe." Am größten sei die Angst vor der Reaktion der Eltern gewesen. "Mein Vater hätte mich auf die Straße gesetzt." Isabell ist sich sicher, dass sie das nicht verkraftet hätte, weil sie sehr an ihrer Familie hängt. Ohne Ausbildung und ohne Arbeit aber hätte sie allein kaum für sich und das Kind sorgen können, fügt sie hinzu. Schließlich war auch vom Vater des Kindes keinerlei Hilfe zu erwarten. "Das war nur eine ganz kurze Beziehung, und er wollte auf keinen Fall ein Kind."

Für Isabell war von Anfang an klar, dass niemand etwas von ihrer Schwangerschaft erfahren durfte. Und doch hat sie nach Hilfe gesucht. "Ich hatte Angst davor, das Kind allein zur Welt zu bringen, Angst vor Komplikationen." Diese Angst habe sie schließlich den Weg ins Krankenhaus Waldfriede finden lassen. "Dort war dann alles gar nicht mehr so schlimm", erinnert sich Isabell. "Schon als mich Frau Stangl an der Pforte in Empfang nahm und mich umarmte, war mir klar, dass ich es gut haben würde." Endlich habe sie mit jemandem über ihre Schwangerschaft reden können. "Das war so erleichternd."

Glücklich ist Isabell auch darüber, dass sie mit aussuchen durfte, welche Familie ihren Kleinen adoptieren wird. "Die Frau von der Adoptionsvermittlung hat mir Fotos verschiedener Familien gezeigt und von ihnen erzählt", sagt Isabell. Ein Foto habe ihr besonders gefallen. "Die Familie sah so freundlich aus und was ich über sie erfahren habe, hat mich absolut überzeugt."

Der Abschied von ihrem Sohn ist der jungen Frau dennoch sehr schwer gefallen. "Ich habe von Anfang an eine enge Bindung zu ihm verspürt und hätte ihn am liebsten mit nach Hause genommen", sagt sie. Immer wieder habe sie den Kleinen in den Tagen bis zur Adoption in den Arm genommen und gestreichelt, ihn an sich gedrückt. "Doch mir war auch klar, dass ich nicht gut für ihn sorgen können würde. Deshalb habe ich mich für die Adoption entschieden."

Brief an den Sohn

Isabell hat einer offenen Adoption zugestimmt. Sie wird deshalb zu jeder Zeit erfahren können, wie es ihrem Kleinen geht und wie er sich entwickelt. Sie wird Fotos sehen können und auch Kontakt zu ihrem Sohn aufnehmen dürfen, wenn sie das möchte. "Vielleicht meldet er sich später ja mal selbst bei mir", sagt die 19-Jährige leise. Auch dass sie ihm einen Brief mitgegeben hat, erzählt sie. "Da habe ich rein geschrieben, weshalb ich mich so entschieden habe und ihm alles erklärt. Ich will doch, dass er mich später versteht und mir nicht böse ist."

Isabell möchte anderen Frauen Mut machen, ähnlich zu handeln wie sie selbst. "Ich hätte nicht gewusst, was ich tun soll ohne die Hilfe von Gabriele Stangl und ihrem Team", sagt sie. Und denkt dabei auch an das Baby, das von seiner Mutter getötet und in einem Altkleider-Container versteckt worden ist. "Ich kann mich durchaus in die Situation völlig verzweifelter Frauen hineinversetzen", sagt sie. "Ich hätte mein Kind aber nie getötet. Wenn ich es allein entbunden hätte, hätte ich es in eine Babyklappe gebracht." Zum Glück sei das nicht nötig gewesen.

In Berlin setzen sich die Grünen für die Legalisierung anonymer Geburten ein. Das Risiko, dass jemand sein Kind aussetzt oder tötet, würde verringert, wenn es neben den Babyklappen für Mütter die Möglichkeit der legalen anonymen Geburt gäbe, sagt die Berliner Grünen-Chefin Irma Franke-Dressler. Isabell bestätigt das: "Im Notfall ist das besser, als allein zu entbinden und dann vielleicht eine Kurzschlusshandlung zu begehen.