"Diebstahl ist kein Kavaliersdelikt", erklärte der HDE-Geschäftsführer und Arbeitsrechtsexperte Heribert Jöris in Berlin. "Ein Arbeitgeber muss nach einem solchen Vorgang jegliches Vertrauen zu einer Kassiererin, die jeden Tag mit erheblichen Geldbeträgen umgeht, verlieren", verteidigte Jöris das vielfach als hart empfundene Urteil.
Dies gelte auch, wenn ein Arbeitnehmer wie im Fall der 50-Jährigen schon sehr lange in dem Betrieb gearbeitet habe. Vorbeugung vor Kriminalität müsse flankiert werden durch eine konsequente Rechtsprechung, die keine Toleranz gegenüber Straftaten erkennen lasse, egal, von wem sie begangen würden, erklärte Jöris. Dem Einzelhandel entstehe jährlich durch Diebstähle von Kunden und Mitarbeitern ein Schaden von vier Milliarden Euro. Dies entspreche einem Prozent des gesamten Jahresumsatzes der Branche.
Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) nannte den Berliner Richterspruch hingegen unverständlich. In einer Mitteilung hieß es, politisch sei das Urteil insofern fatal, da sich wieder einmal der Eindruck verstärke, dass der Otto-Normalverdiener anders behandelt werde als Manager, die ihre Fehler durch Bonuszahlungen auch noch versilbert bekämen. Das Arbeitsrecht sei hier dringend zu überarbeiten und an die Grundsätze des Strafrechts anzugleichen.
Zwei konträre Meinungen, die den Streit um den Fall widerspiegeln. Wie nur wenige Urteile hat die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin bundesweite Wellen geschlagen. In Berliner Supermärkten, in Internetforen und in Leserbriefspalten wird das Urteil debattiert - wobei sich Kritiker und Befürworter der harten Entscheidung erbitterte Wortgefechte liefern ob der Härte des Spruchs.
Die Frau hatte nach mehr als 30 Jahren als Kassiererin ihren Job verloren. Ihr war die Unterschlagung von zwei Pfandbons über 48 und 82 Cent vorgeworfen worden. Das Berliner Landesarbeitsgericht hatte die fristlose Kündigung am Dienstag für rechtens erklärt und von einer Kassiererin absolute Ehrlichkeit verlangt, auf die sich der Arbeitgeber verlassen können müsse.
Bei einer Umfrage der Morgenpost unter Supermarkt-Kunden in der Stadt bezeichnete gestern eine deutliche Mehrheit das Urteil als "unverhältnismäßig" und "unsozial". "1,30 Euro kann man nicht mit 31 Jahren Arbeiten an der Supermarktkasse aufwiegen", sagte Brigitte Steiner (60), die gestern in einer Friedrichshainer Kaiser's-Filiale einkaufte. "Das Unternehmen hätte leicht andere Maßnahmen ergreifen können", sagt Silvia Lichtenfeld (26), die selbst als Kassiererin gearbeitet hat.
"Kein Kavaliersdelikt"
Ein ganz anderes Bild in den Leserforen von Morgenpost Online: Dort hielten sich bis gestern Abend Kritiker und Befürworter des Urteils die Waage. "Es kommt nicht auf die Höhe der Unterschlagung an", so Kurt Hauer aus Zehlendorf, "sondern auf die rechtswidrige Tat selbst. Unterschlagung ist kein Kavaliersdelikt." Marco Mertens schrieb: "Egal wie groß oder klein der Betrag ist, bei Diebstahl ist sofortige Kündigung angemessen."
Unterdessen berät ein sogenanntes Unterstützerkomitee über öffentlichkeitswirksame Aktionen gegen die Einzelhandelskette. Das Komitee hatte bereits während des Prozesses gegen die 50-Jährige Solidaritätsaktionen gestartet. Im August 2008 und im Januar 2009 hatten sie zu Demonstrationen in Kreuzberg und Friedrichshain aufgerufen, an denen sich jeweils bis zu 150 Menschen beteiligten. Weitere Aktivitäten sollten gestern abgestimmt werden, sagte der Sprecher der Gruppe, Ver.di-Mitglied Jörg Nowak.
Linke Initiativen rufen im Internet inzwischen zum Boykott von Kaiser's auf. Solche Boykottaktionen fanden bei unserer Umfrage selbst bei kritischen Supermarktkunden gestern jedoch keine Unterstützung.