Das entsprechende Hüftgelenk wird seit 17 Jahren hergestellt, teilte der Anwalt der Lübecker Herstellerfirma ESKA Implants AG, Ulrich Brock, mit. Bei wie vielen Patienten diese Prothesen implantiert worden sind, darüber gibt der Prothesen-Hersteller keine Auskunft. Auch ist nicht bekannt, bei wie vielen Prothesen-Trägern die Implantate zerbrochen sind. Nach Angaben der Herstellerfirma gebe es aber "zwei Vorkommnisse" in Berlin. Das Prothesenteil ist inzwischen vom Markt genommen worden, laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Der Hersteller hingegen bestreitet die Fehlerhaftigkeit des Materials und verweist auf die "individuelle Situation konkret betroffener Patienten".
Im Flur die Schuhe anziehen
Ein konkret Betroffener ist der Zehlendorfer Ralf Siegel. Bei dem 37-jährigen Beamten brach das künstliche Implantat der Firma ESKA Implants AG bei einer banalen, alltäglichen Tätigkeit. Es ist Dienstag, der 27. Mai 2008, 9.30 Uhr. Ralf Siegel will sich gerade den rechten Schuh mit einem Schuhlöffel anziehen, als es plötzlich "knack" macht. "Da lag ich auf dem Rücken im Flur und konnte mich nicht mehr bewegen", erzählt er. Sofort fühlte er einen stechenden Schmerz. Seine Frau wollte ihm auf die Beine helfen, doch Siegel konnte nicht mehr aufstehen. "Jede Bewegung verursachte höllische Schmerzen."
Mit einem Rettungswagen wurde Siegel in das Zehlendorfer Helios-Klinikum Emil von Behring transportiert. Dort war ihm am 25. Mai 2004 das neue Gelenk eingesetzt worden. Eine Röntgenaufnahme der rechten Hüfte brachte das ganze Ausmaß des Desasters ans Tageslicht: Die künstliche Hüfte von Siegel war am Konusadapter (oberen Prothesenteil, Steckteil für den Stiel und den Kopf) abgebrochen.
Was Siegel nicht wusste: Dieser Prothesensteckteil der Kunsthüfte war zum Zeitpunkt des Bruches längst von ESKA Implants vom Markt genommen worden. Nach Angaben der für die Aufsicht über die Medizinprodukte zuständigen Bonner Behörde, dem BfArM, wurde jener Konusadapter von der Firma selbst vom Dezember 2005 an zurückgerufen. Die Begründung: "Erhöhte Rate von Versagensfällen". Von Materialfehlern war keine Rede. Die Rückruf-Aktion sei im April 2006 abgeschlossen gewesen, teilt das BfArM mit. Der Hersteller habe "konstruktiv verbesserte Konusadapter und Hüftstiele hergestellt". Die Patienten wurden aber offenbar nicht darüber in Kenntnis gesetzt. "Ich fiel aus allen Wolken", sagt der Berliner Hüftpatient Ralf Siegel.
Rückblick: Ralf Siegel, Diplomverwaltungswirt bei der Deutschen Telekom, leidet seit seiner Geburt an einer Durchblutungsstörung des Knochenapparates. "Mit 20 Jahren hatte ich schon die Hüfte eines 60-Jährigen", erzählt er. Die orthopädische Kinderkrankheit heißt Morbus Perthes. Bei jeder Bewegung hatte Siegel im rechten Hüftgelenk Schmerzen. Ihm blieb keine andere Wahl: Er brauchte schon mit 32 Jahren ein neues Gelenk. Er wandte sich an ausgewiesene Experten. In der Abteilung für Orthopädie im Helios-Klinikum Emil von Behring werden nicht nur viele künstliche Hüftgelenke eingesetzt. Die Experten arbeiten nach eigenen Angaben auch wissenschaftlich mit der Lübecker Medizin-Firma ESKA Implants zusammen.
Das Zehlendorfer Emil-von-Behring-Krankenhaus der Helios Gruppe gilt zudem als orthopädische Fachklinik. "Die Klinik für Orthopädie blickt auf die nahezu hundertjährige Geschichte der Stiftung Oskar-Helene-Heim zurück. Dieser Name steht für eine der renommiertesten Orthopädischen Einrichtungen in unserem Land, die Abteilung genießt Ansehen weit über die Landesgrenzen hinaus", schreibt der Helios-Konzern auf seiner Homepage.
Vier Bohrköpfe brechen
"Ich hatte absolutes Vertrauen in die Ärzte", sagt Siegel. Am 25. Mai 2004 bekam er die neue Hüfte. Am 27. Mai 2008, nur vier Jahre später, geschieht das Unfassbare: Siegel will sich die Schuhe anziehen und kippt um wie ein gefällter Baum.
Erneut lag Siegel auf dem OP-Tisch des Behring-Krankenhauses und hoffte auf eine neue Prothese. Doch als der Zehlendorfer aus der Narkose erwachte, hatte er kein neues Hüftgelenk bekommen. Der Grund: Das kaputte Teilstück der Prothese konnte nicht entfernt werden. Nach Angaben der Klinik seien bei der Operation vier Bohrköpfe eines Hochgeschwindigkeitsbohrers abgebrochen. Schuld sei das harte Material der Prothese. Um drei Millimeter der Chromkobaltverbindung zu durchbohren, bräuchte es 45 Minuten. Daraufhin habe die Klinik per Nacht-Kurier aus Lübeck von der Firma ESKA Implants sechs neue Bohrköpfe herangeschafft. Nun gelang es, dem Patienten eine neue Prothese zu implantieren.
In den vergangenen Jahren, seit 1993 bis heute, seien bei etwa 3000 Patienten diese künstlichen Hüftgelenke eingesetzt worden. Laut Klinik sei es bei drei Patienten zu Konusbrüchen gekommen. Einzelfälle, laut Klinik. "Es kann kein Mensch sagen, warum die Hüfte bei den drei Patienten gebrochen ist", sagt Chefarzt Jörg Scholz.
Patient Ralf Siegel ist Beamter und Privatpatient. In der Helios-Privatklinik Emil von Behring fehlt es solchen finanziell attraktiven Patienten nicht an luxuriösen Annehmlichkeiten. Hotelkomfort mit Bademantel, Flachbildschirm, Internetzugang, Laptop gehören dazu. Zu diesem Zeitpunkt nutzte Siegel vom Krankenbett aus den Weg ins Internet, um sich einen Medizinanwalt zu suchen. Noch von der Klinik aus rief er den Berliner Medizinrechtler Jörg Heynemann an, der bereits viele Prothesen-Geschädigte vertreten hat.
Mit der Firma ESKA Implants hat sich Siegel auf Schmerzensgeld geeinigt. Gegen die Klinik und den Operateur will Siegel rechtlich vorgehen. Der Patient will den Arzt auf Zahlung von Schmerzensgeld verklagen, wegen der zweiten, seiner Ansicht nach unnötigen Operation. Zudem sei er über das fehlerhafte Prothesenteil nicht informiert worden. In der Zeit von Dezember 2005 bis April 2006 war der Konusadapter der Prothese vom Markt genommen worden, laut BfArM. Im Mai 2008 war die Hüfte bei Siegel gebrochen. "Das ist verantwortungslos von den Ärzten", sagt der Prothesenträger.
Anwalt fordert Prothesenregister
Für Anwalt Jörg Heynemann steht fest: "Es zeigt sich wieder einmal, dass Materialfehler von Implantaten kaschiert werden." Niemand habe ein ernsthaftes Interesse daran, die betroffenen Patienten zu informieren. Die Implantathersteller nicht, weil Schadensersatzforderungen auf sie zukommen könnten. Die betreffenden Kliniken nicht, weil sie ihre Reputation gefährdet sähen und auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nicht, weil es sich nicht zuständig fühle, obwohl es sich eigentlich um die Überwachungsbehörde handele. Medizinanwalt Jörg Heynemann schlägt vor: "Diese Situation könnte durch die Einführung eines Implantatregisters verbessert werden. Ein solches Register müsste dann aber auch für Patienten zugänglich sein. Nur so wären eine Qualitätskontrolle und ein angemessener Verbraucherschutz zu sichern."