Umbruch einer großen Stadt

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Peter Schubert

Multikulturell, kosmopolitisch und fortschrittlich - so muss das neue Berlin werden. Aber auch die Stadt selbst hat Vorzüge und Standortvorteile: die Urbanität, die Freiräume, das Grün - und künftig vielleicht auch die abwechslungsreiche Architektur.

Es ist immer wieder ein Phänomen, wie schnell sich nörgelnde Neuankömmlinge in begeisterte Berliner verwandeln. Vergessen die Angst vor dem Moloch, revidiert die Vorurteile über die vorlaute Hauptstadt. Die «Schönheit der großen Stadt», wie sie August Endell (HackescheHöfe) bereits 1908 so eindringlich beschrieben hat, zieht noch heute beinahe jeden Skeptiker in den Bann, sobald er sich einmal auf Entdeckungsreise begeben hat.

Wie oft hört man dann die Aussage: «Ach, ich wusste ja gar nicht, was für eine grüne Stadt Berlin ist.» Und wer, außer Nostalgikern, mag in der vielschichtigen Innenstadt noch länger von der «gemordeten Stadt» reden? Natürlich ist das durch Krieg und Nachkriegszeit weitgehend zerstörte Berlin heute keine romantische Stadt wie Paris. Immerhin aber ist es eine Metropole, die sich wie London oder New York fortentwickelt hat, an der weiter gebaut wurde, ohne dass die Identität preisgegeben wurde.

Unterdessen birgt sogar die Stagnation neue Chancen. Die wirtschaftlichen Bürden sind zwar gewaltig, die uns einerseits die Deindustrialierung Berlins, andererseits die auf Zuwachs angelegten Entwicklungsgebiete und auf Pump finanzierten Prestigebauten beschert haben. Jedoch lässt sich damit nun auch wuchern: In welch anderer Großstadt kann man heute so billig wohnen und leben wie in Berlin? Wo sonst bietet die Stadtlandschaft so viele Freiräume? Argumente, die über kurz oder lang auch Neuansiedlungen befördern werden - sowohl von zukunftsorientierten Firmen, jedenfalls aber von Neubewohnern, die von der Wirtschaft als «human capital» gesucht werden.

Phase 1 der zweiten Berliner Gründerzeit ist abgeschlossen. 30 Milliarden Euro sind in den vergangenen zwölf Jahren in das neue Berlin investiert worden. Mit dem Bau von 150 000 Wohnungen konnte gar der Stadtflucht und Zersiedlung Einhalt geboten werden. Die Fundamente für Phase 2 sind gelegt: Der Pflicht kann die Kür folgen. Die neuralgischen Punkte werden die City-West, die historische Mitte rund um den Schlossplatz, der neue Alex sowie die Spreeufer von Friedrichshain-Kreuzberg sein. Eine Mammutaufgabe ist es auch, am Lehrter Bahnhof ein urbanes Stadtquartier zu entwickeln, das der neuen Station das Umfeld garantiert, ohne das ein Verkehrsknoten nicht funktioniert: ein vitales Bahnhofsviertel.

Allein schon wegen der großen Anzahl an herausragenden Nebenbaustellen (Nordbahnhof, Gleisdreieck, Schlachthof Eldenaer Straße, Köbis-Dreieck im Tiergarten, etc.), für die Projektentwickler gleichfalls um Investoren buhlen müssen, darf Berlin in den kommenden Jahren auf so manche neue spektakuläre Stadtansicht hoffen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die herkömmliche seelenlose Investorenarchitektur, mit der zunächst einmal der dringende Bedarf nach Büros und Einzelhandelsflächen befriedigt wurde, nicht mehr den Ansprüchen genügt. Gefragt sind Qualität, repräsentative Gebäude, eine unverwechselbare Architektur.

Weil die Geschmäcker und Bedürfnisse verschieden sind, wird Berlin auch in Zukunft eine internationale Bauausstellung bleiben. Anders als beim Bauboom der 90er-Jahre, wo so manche kühne Vision bereits im Keim erstickt wurde, wird sich aber die Bauverwaltung ihren Rigorismus nicht mehr erlauben können und sukzessive die Regularien lockern müssen. Einerseits wird Berlin dadurch über die Traufhöhe hinaus in die Höhe wachsen. Und das sicher nicht nur am Alex und in der City-West. Andererseits könnte der Stadt eine Renaissance der Baukunst bevorstehen, in der es keine Tabus und Denkverbote mehr gibt.

Berlin braucht Vielfalt, mehr Abwechslungsreichtum oder auch, ganz einfach gesprochen, mehr Schönheit. Eine Stadt, in der dem Auge mehr geboten wird als sterile Fassaden. Eine Stadt, in der expressive Architektur genauso zum Zuge kommt wie traditionelles Bauen.

Das Planwerk Innenstadt könnte dabei durchaus auch weiterhin das städtebauliche Korsett bilden. Zu wünschen wäre jedoch, dass auf den durch die Verdichtung der Innenstadt neu entstehenden Baugrundstücken künftig mehr Solitäre zugelassen werden, um das Stadtbild mit markanten Fixpunkten zu bereichern. Erste Anzeichen für einen raumgreifenden Bewusstseinswandel gibt es. Die Visionen für die sogenannte Mediaspree etwa. Auch der Alexanderplatz hat das Potenzial, eine neue Visitenkarte zu werden. Vergessen wir, die von Hans Kollhoff gezeichneten Türme und tauschen sie gedanklich einmal gegen die gerade vorgelegten Entwürfe Daniel Libeskinds für Ground Zero in New York aus. Berlin sollte an dieser Stelle nicht rückwärtsgewandt die 30er-Jahre in Chicago kopieren, sondern offensiv in den internationalen Wettstreit um die Stadt der Zukunft eintreten.

Welch Kontrast, wenn gleich nebenan vor dem Roten Rathaus der Sehnsucht nach historischer Identität nachgegeben wird. Wie wäre es, nicht nur Stadtschloss, Bauakademie und Kommandantenhaus zu rekonstruieren, sondern am Marx-Engels-Forum ein ganzes Stück Altberlin. Wenn der US-Stadtplaner Andres Duany hinter dem Tacheles ein Stadtquartier im Stile des New Urbanisem realisieren darf, was spricht dann dagegen die Brache des Stadions der Weltjugend zu parzellieren und zum Bau individueller Reihenhäuser freizugeben. Die Townhouses aus San Francisco oder Bremen-Ostertor könnten eine Alternative zur konfektionierten Uniformität sein.

Reserven hat die Stadt in Hülle und Fülle. Fatal wäre es nur, sie auf einmal preiszugeben. Das Tempelhofer Feld darf nach Schließung des Flughafens nicht versilbert werden. Welche Großstadt hat sonst noch die Chance, einen neuen Central-Park mitten in der City anzulegen?

Ende